1945 (Zur Erinnerung an Dich, Onkel Ernst) Fremder Mann, im üppig blühenden Sommergarten stehen wir uns gegenüber. Du, der Häftling aus Buchenwald, ich das sechsjährige Mädchen. Eigenartig schaust du aus. Dein Gesicht wie eine Maske, dein Körper nur ein Gerippe. Deine Augen schauen durch mich hindurch, du sprichst kein Wort mit mir. Bist du etwa stumm oder taub? Dein stumpfer Blick scheint nur auf die Blütenpracht gerichtet zu sein und ist doch so weit weg.
Helmut beugte sich über seinen alten, zerkratzten Schreibtisch, auf dem sich abgegriffene Bücher, Kladden und Alben türmten. Seine Hände, übersät mit braunen Flecken und hervortretenden dunklen Adersträngen, umfassten zitternd ein großes vergilbtes Foto. »1924«, brummelte er. »Was war 1924, Opa?« Schwerfällig sank Helmut auf den gepolsterten Stuhl und seufzte. Er hatte seinen zwölfjährigen Urenkel Kai, der ihm mit verwuscheltem hellblondem Haarschopf im Schlafanzug gegenüber saß, für eine Weile vergessen. Nun blickte er ihn zwinkernd an.