Aus der Enge der mütterlichen Geborgenheit ausgestoßen, ausgetrieben. Der Schrei, der erste Schrei, vermischt mit den Explosionen der detonierenden Bomben, hallt durch den feuchten, dunklen Bunker. Rings umher Menschen mit angstvollen Gesichtern, angespannten Körpern. Die Mutter allein gelassen ohne Hebamme und ärztliche Hilfe. Dieser Bunker wird nun in den ersten zwei Jahren dieses kleinen Wesens immer wieder das schützende Zuhause, wenn die Sirenen den herannahenden Fliegerverband mit der tödlichen Last im Rumpf ankündigen.
Wilder Mann (Der Geschichte erster Teil) Im späten Mittelalter, genauer gesagt im Jahre 1418, wurde in der Stadt Hildesheim am alten Markte das erste Fachwerkhaus errichtet. Ein Haus des Ackerbürgers war es und die Menschen, die in ihm leben durften, waren selbstbewusst und voller Freude. Sie waren Handwerker und mit Recht stolz auf das Geschaffene. Wenig mehr als hundert Jahre später stand ein junger Zimmergeselle vor eben diesem wunderschönen Haus und konnte sich nicht sattsehen.
Im Frühjahr 1945 kehrten wir in unser Heimatdorf zurück. Wir alle waren froh, dass das Haus noch stand. Etliche Granaten waren zwar eingeschlagen, aber das Dach war nur teilweise zerstört. Vater fand am nächsten Tag zufällig zwischen zwei zerschossenen amerikanischen Militärfahrzeugen ein paar noch gut erhaltene Autoabdeckplanen. Damit konnte er provisorisch die Löcher im Dach flicken, so dass es nicht mehr durchregnete. Meine Mutter machte sich große Sorgen, wovon wir wohl in Zukunft leben sollten.
Gemurmel im Hintergrund. Ihre Gäste reden von der Angst vor Kellergespenstern. Renates Gedanken driften in frühere Zeiten ab. Die Sirene heult ums Haus. Alte Bücher auf dem Speicher, ein Gesangbuch, »Bis hierher hat mich Gott gebracht…«. Tiefflieger, krachende Äste, heulender Sturm. Hinter einem kleinen Fenster, einem Ausschnitt im Dunkel, der tiefrote Himmel. Diese Erinnerungen plötzlich. Bilder, Rufen. »Mutter! Mutter!«, »Ruhe hier, was sollen denn die Kinder denken? Gehen Sie endlich wieder da hinten hin und bleiben Sie bei den anderen sitzen!
Es beginnt schon zu dämmern, als unsere Nachbarn, die alten Friedrichs, an der Wohnungstür klingeln. Ich öffne und muss erst einmal »hochziehen«, bevor ich »guten Abend« sagen kann, denn ein Taschentuch führe ich in meiner Hosentasche nicht. Ich bibbere immer noch vor Kälte. Meine Knie in den kurzen Hosen, auf die ich selbst im Winter nicht verzichten möchte, sind rot und blau gefroren, weil ich den ganzen Tag draußen bei der Versorgung der Flüchtlingstrecks durch das Jungvolk geholfen habe.
Fortsetzung von »Pusteblumen im Winter« Sonderzug ins Land des Lächelns Wieder einmal stehen wir in trostloser Dunkelheit und klammer eisiger Kälte mit unseren Gepäckballen und Koffern auf einer fremden Straße in einer Stadt, von der wir nur den Namen kennen: Neuwied. Wir strecken unsere steif gewordenen Glieder nach dieser nervtötenden nächtlichen Busfahrt. Neuwied. Wir sind sozusagen rausgeschmissen worden. Alle sind ausgestiegen, auch die Männer in Zivil. Die werden schon wissen, wie es für sie weitergeht.
Aus dem Nichts schossen die metallenen Bestien urplötzlich über dem nahen Horizont empor, um sich sogleich auf die beiden erspähten Opfer zu stürzen. Wie Hornissen rasten sie in geringer Höhe über die unbestellten, kahlen Felder. Das Kind stand gebannt von dem Schauspiel und starrte mit großen, staunenden Augen in das aufblitzende Mündungsfeuer der beiden fliegenden Maschinengewehre. Bauer war noch zu unerfahren, die tödliche Gefahr zu erkennen, er versuchte instinktiv den Lärm abzuwehren und hob die kleinen Hände an die Ohren.
Ich war gerade 17 Jahre alt. In der Kleinstadt mit ihren 3000 Einwohnern in der Nähe von Danzig, in der ich aufgewachsen war, lebten wir wie in einer Dorfgemeinschaft. Wir kannten uns fast alle. Der Krieg nahm immer mehr an Härte und Brutalität zu. Menschenmaterial wurde an der Kriegsfront verheizt. Die Blüte der Jugend wurde im viel zu frühen Alter im Kampf für das Vaterland gefordert. Der größte Teil der Jugend wurde zur Infanterie oder Waffen SS einberufen.
Ende September 1945 verließ ich mit meiner Mutter die von russischen Truppen besetzte Insel Rügen. Ich war acht Jahre alt. Unser Ziel: den von den westlichen Alliierten kontrollierten Teil Deutschlands zu erreichen. Wochenlang waren wir auf Achse und fragten uns täglich: wie geht es weiter, ohne Proviant und ohne ein Dach über dem Kopf. Wieder im Straßengraben übernachten oder vielleicht doch in einer Scheune unterkriechen? Stets waren wir in panischer Angst, von russischen Patrouillen gefasst oder von Landsleuten denunziert zu werden.
Der Winter 1946/47 war bitterkalt. Wir froren jämmerlich, hatten weder gute warme Bekleidung, noch Geld, um Kohlen zu kaufen. Wir, das waren meine Mutter, meine zwei Geschwister und ich, sechseinhalb Jahre jung. Wir waren zwei Jahre zuvor in einem in Polen noch eisigeren Winter in einem offenen Viehwaggon aus Posen geflüchtet. Dabei waren mir beide Beine bis zu den Knien erfroren. Zwei Jahre später litt ich noch immer an den Folgen dieser Erfrierungen.
Im Herbst 1944 hatten wir unser Dorf vor der anrückenden Front verlassen müssen und waren in den nahe gelegenen Wald gezogen. »Es ist nur für ein paar Tage«, hatte mein Vater gesagt, als wir Bretter, Balken, Bettzeug, einen Tisch, eine Kanne voll Milch, ein Säckchen Kartoffeln und einige Lebensmittel aus der Vorratskammer auf den Pferdewagen luden. »Wir bleiben hier im Wald bis die Amerikaner kommen, dann können wir wieder zurück in unser Haus«, verkündete Vater abends, als die Bretterbude fertig aufgebaut war und wir uns total erschöpft an einem kleinen Feuer wärmten.
Zu meinen Kindheitserinnerungen gehören verdunkelte Fenster, Sirenen und überstürzte Fluchten in den Luftschutzkeller. Jede harmlose Sirenenübung der Feuerwehr jagt mir noch heute einen Schauer den Rücken hinunter, weil der Ton gekoppelt ist an diese nächtlichen Vorgänge, die mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen. Als die Front damals näher rückte, blieb es nicht mehr bei der nächtlichen Flucht in den Luftschutzkeller. Die Bevölkerung der östlichen Gebiete Deutschlands wurde evakuiert. Das war im Februar 1945.
Der November 1944 war besonders kalt und nass. Seit fast zwei Monaten hausten wir nun hier in einer Bretterbude am Waldrand, nachdem wir vor der heranrückenden Front geflüchtet waren. Es war nicht allzu weit entfernt von unserem Heimatdorf. Mein Vater war davon ausgegangen, dass wir wieder heimkehren könnten, sobald die Alliierten unser Dorf eingenommen hätten. »Heute Nachmittag«, so erzählte Vater eines Abends, als wir wieder einmal frierend am prasselnden Feuer vor unserer Behausung saßen, »habe ich deutsche Soldaten getroffen, die mir sagten, dass die Kameraden in den Westwallbunkern den Vormarsch der Amerikaner gestoppt hätten.
Die großen Schulferien sind verlängert worden. Klasse! Diese gute Botschaft hat sich herumgesprochen wie ein Lauffeuer. Da kommt Freude auf. Ich besuche das 3. Schuljahr in der Volksschule in Bochum-Weitmar. Heute, am 1. September 1939, weile ich schon drei lange Wochen in Ferien bei unserer Oma in Essen-Schonnebeck. Ich will aber nach Hause! Meine beiden Brüder sind bei den anderen Großeltern in Essen auf der Margarethenhöhe in Ferien. Aber was ist heute, am 1.
In jener Nacht im März 1942, als unsere Mutter mich wach rüttelt, fliegen bereits britische Bomberverbände das Ruhrgebiet an. »Los Lore, aufstehen. Jeden Moment kann es Fliegeralarm geben. Im Radio ist bereits Feindeinflug gemeldet worden. Steh auf!« »Ach, lass mich doch schlafen. Vielleicht gibt es ja gar keinen Alarm!« Ich dreh mich wieder auf die Seite. Mama wird ärgerlich: »Los, raus aus den Federn!« Sie zieht das Oberbett weg und ich rolle mich verdrießlich im Trainingsanzug aus dem Bett.
Vater, du verließest mich, ich konnte gerad’ erst steh’n. Das Vaterland, es brauchte dich —-, es gab kein Wiederseh’n. Wie gerne hätte ich mit dir einmal geweint, gelacht, hätt’ froh erlebt, wenn du mit mir den ersten Schritt gemacht. Ich kenne deine Stimme nicht und sehn’ mich so nach ihr. Die unerfüllte Sehnsucht verklingt wohl nie in mir. Nie durfte ich erfahren das Streicheln deiner Hand. Du opfertest dein Leben
Räume, Orte, Menschen, Fahrzeuge, ein wirres Kaleidoskop. Immer wieder einpacken, aufbrechen. Die »Lappen Ella« an die Brust gedrückt. Ihr, der Lumpenpuppe, flüsternd Geschichten erzählen, sie aufmuntern, um die eigene Angst zu verlieren. Einer Liebe, die in all dem Chaos Sicherheit, Geborgenheit gibt, damit Angst und Schrecken, die permanente Ungeborgenheit nicht überhand nehmen, sich nicht ausbreiten, nicht lähmen oder sich in einem Gebrüll zur falschen Zeit Bahn brechen: »Um Gottes Willen Kind, sei bloß still, du bringst uns noch alle ins Grab!
Es waren junge Soldaten. Schüler, gerade 15 Jahre alt, als sie Anfang 1944 als Luftwaffenhelfer zu einer Flugabwehrbatterie eingezogen wurden. Diese lag zum Schutz eines großen Stahlwerkes in Georgsmarienhütte. Ich war einer von ihnen. Und zwar der Jüngste des Jahrgangs 1928, der als letzte Altersstufe zur Flugabwehrkampfwaffe (Flak) verpflichtet wurde. Dreimal in der Woche fuhren wir Jungen zu unserer Schule nach Osnabrück, um neben dem Dienst in der Stellung dennoch das Schulpensum zu erreichen und den geistigen Anschluss nicht zu versäumen.
Es war Anfang Dezember 1944, der letzte Kriegswinter. Vor Kälte schlotternd, mit rotgefrorenen Wangen, stürmte ich ins Haus, um mich ein wenig aufzuwärmen. Als ich händereibend die sonst so heimelige Wohnküche betrat, schlug mir eine ungewohnte Kälte entgegen. Etwas Bedrückendes lag in der Luft. Statt meiner Mutter stand eine Nachbarin am Küchenherd und machte sich dort zu schaffen. Meine Mama, die hochschwanger war, saß mit ihrem unförmigen Leib am Küchentisch und hatte den Kopf auf ihre Hände gestützt.
Der Krieg führte uns zusammen, dich, den gefangenen französischen Offizier, der freiwillig bei meinem Großvater Dienst tat, und mich, das kleine deutsche Mädchen. In deinem Herzen brannte die Sehnsucht nach Heimat und Familie, in meinem die nach dem gefallenen Vater. Wir ergänzten uns gegenseitig. Du reichtest mir deine väterliche Hand, stilltest meinen Wissensdurst. Ich belohnte dich mit frischem Kinderlachen und kindlicher Unbefangenheit. Zärtlich nanntest du mich: »Bebe«, und ich dich liebevoll: »Monsieur Viktor«.
Er hörte es in den Abend-Nachrichten. In der westfälischen Stadt Rheine war am Nachmittag eine Bombe explodiert. Ein Blindgänger aus dem zweiten Weltkrieg. Ein schreckliches Ereignis, denn ein Bauarbeiter war bei diesem Unglück um sein Leben gekommen. Es war ein Toter zu viel. Was war geschehen? In der Stadt wurde ein neues Geschäftszentrum geplant. Direkt gegenüber vom Bahnhof. Die Vorarbeiten für dieses Objekt waren mit den Ausschachtungsarbeiten und der Trümmerräumung in vollem Gang.
Der Krieg hielt dich in seinen Klauen. Ich, dein Töchterchen, wuchs in Mutters Großfamilie auf. Ich vermisste dich nicht, weil ich dich nicht kannte. Mutter hatte viele Brüder, alles meine Onkel, die ständig um mich herum waren. Dann kamst du unverhofft auf Fronturlaub. Freudig rief Mutter: »Anne, dein Papa ist da!« Schüchtern reichte ich dir meine kleine Hand und hauchte: “Onkel Papa”. Du warst geschockt, enttäuscht. Ich hatte dir sehr weh getan,
Iversheim bei Münstereifel kurz vor Kriegsende Kann man das Leben nennen, das wir hier führen, Anfang Februar 1945? Mit “wir” meine ich unsere übrig gebliebene kleine Familie: die Mama, den Hubert, unser Baby Brigitte und mich. Wir atmen noch in einem ständig von der feindlichen Artillerie beschossenen kleinen Dorf in der Voreifel. - Ja, Iversheim gibt es noch! In den verbauten engen kleinen Fachwerkhäusern ohne Kanalisation leben Menschen - an der Ley, eigentlich müsste es heißen “An der Erft”, denn diese plätschert ins Dorf hinunter.
»Morgen gibt es die letzten Zeugnisse von mir!« verkündete Lehrer Thoma uns, der vierten Schulklasse, einige Tage vor Ostern. Nun war das Ende des Schuljahres 1944 gekommen und jetzt musste entschieden werden, wer zum Gymnasium ging oder nicht. Ich hatte schon einige Monate vorher heimlich bei meiner Mutter mal nachgefragt, ob ich, wenn das Zeugnis gut wäre, auf die höhere Schule gehen dürfte. Mit meinem Vater darüber zu sprechen, traute ich mich nicht.
Die Milchkanne schlenkert um ihr Handgelenk, schlägt wider Willen gegen einen der Feldsteine am Rand der Dorfstraße, baumelt lange Minuten träge neben der Wiese mit dem Löwenzahn herum, klappert gegen den endlosen Lattenzaun, scheppert lustlos mit dem Deckel und hängt endlich zwischen braunen, grauen, karierten Wollröcken und Tuchjacken dicht über dem kühlen Terrazzofußboden im säuerlichen Dunst des Ladens. Die käsige Luft schwingt vom erregten Flüster-Stimmen-Gewirr. Keine klaren Worte, kein verständlicher Satz.
Helmut beugte sich über seinen alten, zerkratzten Schreibtisch, auf dem sich abgegriffene Bücher, Kladden und Alben türmten. Seine Hände, übersät mit braunen Flecken und hervortretenden dunklen Adersträngen, umfassten zitternd ein großes vergilbtes Foto. »1924«, brummelte er. »Was war 1924, Opa?« Schwerfällig sank Helmut auf den gepolsterten Stuhl und seufzte. Er hatte seinen zwölfjährigen Urenkel Kai, der ihm mit verwuscheltem hellblondem Haarschopf im Schlafanzug gegenüber saß, für eine Weile vergessen. Nun blickte er ihn zwinkernd an.
Dunkel war es gewesen, als die Mutter sie geweckt hatte. Sie hatte über das Hemdchen das Leibchen und darüber zwei Pullover und auch noch die Strickjacke anziehen müssen, und zwei Röcke. Eng war es im Mantel, gar nicht richtig warm, als sie in der kalten Januarluft zum Bahnhof trabten, die Mutter mit dem Koffer, der großen Tasche und dem Rucksack und sie mit den Schwestern an der Hand, Anna und Stänzel.