Lebenserinnerungen, Tagebuchnotizen und literarische Texte, die um historische Ereignisse kreisen.
Zu den TextenErnst Genzmer Geboren: 4. September 1896 Gestorben: 28. März 1918 Im 1. Weltkrieg: Im Felde, den 16. III. 1918 Ich komme erst heute wieder dazu, an Euch zu schreiben. Den Grund für mein längeres Schweigen kann ich jetzt sagen: Wir hatten schon vor längerer Zeit einen größeren Vorstoß gegen die Russen geplant. Ich meldete mich sofort und habe auch die Pläne dazu ausgearbeitet. Es gab nun in diesen Tagen massenhaft mit den Vorbereitungen zu tun.
Bachabkehr ist sonst nur einmal im Jahr, ein Fressen für Anrainer, zappelnde Fische auf plötzlicher Ebbe im Bett des Mühlbachs, man braucht sie nur zu greifen. Eine Woche steht still die Kette der Mühlen, in hohen Stiefeln waten die Fischer. Bachabkehr, die Kette der Mühlen steht still, man greift sich die Müllner, die zusammengerottet versucht haben, eine Brücke zu halten, als der Bürgerkrieg schon verloren war. Geflohen dann, die Dämme entlang,
Wenn man heute am Beginn des neuen Jahrhunderts als Amateur dem Hobby Fotografieren nachgeht, so unterscheidet sich dies gewaltig von der Fotografie der 30er-Jahre. Welten liegen dazwischen. Es sind Unterschiede jeglicher Art, nicht nur die rein technischen, ganz bestimmt auch die des Erlebnisses. Da geht man heute mit einer Digitalkamera in die Natur, wählt seine Motive aus, und schon ist das Bild auf dem Chip. Es kann sofort auf dem Monitor angeschaut oder auch in Sekunden ausgedruckt werden.
Kann man sich eigentlich so ohne weiteres an seine Kindheit, an die Jugend erinnern? An all jenes, was im einzelnen damit zusammenhing und einherging? Wahrscheinlich doch nur zu einem Teil. Und wohl hauptsächlich an die einschneidenden Begebenheiten, also an solche, die aus verschiedenen Gründen im Gedächtnis haften blieben. Dabei sind Erinnerungen so schön, weil sie eine Sehnsucht zum Inhalt haben. Weil das “Damals” alles so leicht und unbeschwert war. Und weil wir als Kinder es so und nicht anders gelebt haben.
Eltbogen ist schon lange überfällig, die Meisterin lugt oft besorgt zum Fenster, weils Abend wird und sich das Wirtshaus füllt und bald die Tagediebe trunken ausspeit. Die wohlfeil für drin ausgebrachte Runden, ihr Mütchen vor dem Judenhaus zu kühlen, Eltbogen ihr “Juda, verrecke!” schreien. Der Lehrling sieht vom Dachfenster die Kumpel vom Fußballplatz, vom Samstagskorso wieder, erkennt die heisern Stimmen auch im Dunkeln, für die der neue Sport einfach Gaudee ist,
So kam mein Abitur näher. Der Leiter unserer Schule war damals Oberstudiendirektor Dr. Gohlke, ein Nazi, aber auch wohl eher ein schwacher denn ein schlechter Charakter. Wenn alle Schüler sich zur vorgeschriebenen montäglichen Morgenfeier versammelten, pflegte er die deutschen Märchen im Sinne nationalsozialistischer Ideologie zu interpretieren, was nicht nur mir erheblich auf die Nerven ging. Doch schien er mir persönlich nicht ohne Wohlwollen zu begegnen. Einige Monate vor der Abiturprüfung wirkte ich bei einem künstlerisch gestaltetem Elternabend mit.
Die großen Schulferien sind verlängert worden. Klasse! Diese gute Botschaft hat sich herumgesprochen wie ein Lauffeuer. Da kommt Freude auf. Ich besuche das 3. Schuljahr in der Volksschule in Bochum-Weitmar. Heute, am 1. September 1939, weile ich schon drei lange Wochen in Ferien bei unserer Oma in Essen-Schonnebeck. Ich will aber nach Hause! Meine beiden Brüder sind bei den anderen Großeltern in Essen auf der Margarethenhöhe in Ferien. Aber was ist heute, am 1.
Vater, du verließest mich, ich konnte gerad’ erst steh’n. Das Vaterland, es brauchte dich —-, es gab kein Wiederseh’n. Wie gerne hätte ich mit dir einmal geweint, gelacht, hätt’ froh erlebt, wenn du mit mir den ersten Schritt gemacht. Ich kenne deine Stimme nicht und sehn’ mich so nach ihr. Die unerfüllte Sehnsucht verklingt wohl nie in mir. Nie durfte ich erfahren das Streicheln deiner Hand. Du opfertest dein Leben
In jener Nacht im März 1942, als unsere Mutter mich wach rüttelt, fliegen bereits britische Bomberverbände das Ruhrgebiet an. »Los Lore, aufstehen. Jeden Moment kann es Fliegeralarm geben. Im Radio ist bereits Feindeinflug gemeldet worden. Steh auf!« »Ach, lass mich doch schlafen. Vielleicht gibt es ja gar keinen Alarm!« Ich dreh mich wieder auf die Seite. Mama wird ärgerlich: »Los, raus aus den Federn!« Sie zieht das Oberbett weg und ich rolle mich verdrießlich im Trainingsanzug aus dem Bett.
Der Krieg hielt dich in seinen Klauen. Ich, dein Töchterchen, wuchs in Mutters Großfamilie auf. Ich vermisste dich nicht, weil ich dich nicht kannte. Mutter hatte viele Brüder, alles meine Onkel, die ständig um mich herum waren. Dann kamst du unverhofft auf Fronturlaub. Freudig rief Mutter: »Anne, dein Papa ist da!« Schüchtern reichte ich dir meine kleine Hand und hauchte: “Onkel Papa”. Du warst geschockt, enttäuscht. Ich hatte dir sehr weh getan,
Helmut beugte sich über seinen alten, zerkratzten Schreibtisch, auf dem sich abgegriffene Bücher, Kladden und Alben türmten. Seine Hände, übersät mit braunen Flecken und hervortretenden dunklen Adersträngen, umfassten zitternd ein großes vergilbtes Foto. »1924«, brummelte er. »Was war 1924, Opa?« Schwerfällig sank Helmut auf den gepolsterten Stuhl und seufzte. Er hatte seinen zwölfjährigen Urenkel Kai, der ihm mit verwuscheltem hellblondem Haarschopf im Schlafanzug gegenüber saß, für eine Weile vergessen. Nun blickte er ihn zwinkernd an.
In meinem zwölften Lebensjahr, kurz bevor die Welt aus den Angeln zu geraten schien, traf ich sie. Sie war nicht älter als ich und hatte große dunkle Augen und schwarzes glänzendes Haar. Ihre wunderschöne Haut war von der eisigen Januarkälte krebsrot gefärbt. Ich war fasziniert von der Ausstrahlung dieses Mädchens. Ihre Kleidung war nicht bemerkenswert. Sie trug einen langen schwarzen Mantel, der ihre Figur verhüllte, abgetragene Schuhe, einen verwaschenen Schal sowie mehrfach gestopfte Wollhandschuhe.
Aus der Enge der mütterlichen Geborgenheit ausgestoßen, ausgetrieben. Der Schrei, der erste Schrei, vermischt mit den Explosionen der detonierenden Bomben, hallt durch den feuchten, dunklen Bunker. Rings umher Menschen mit angstvollen Gesichtern, angespannten Körpern. Die Mutter allein gelassen ohne Hebamme und ärztliche Hilfe. Dieser Bunker wird nun in den ersten zwei Jahren dieses kleinen Wesens immer wieder das schützende Zuhause, wenn die Sirenen den herannahenden Fliegerverband mit der tödlichen Last im Rumpf ankündigen.
Meine Eltern hatten eine kleine Landwirtschaft im Dorf. Vater war vom Militärdienst freigestellt. Er musste dafür in den Kriegsjahren täglich mit Pferd und Wagen in mehreren Dörfern die Milch bei den Bauern abholen und zur Molkerei fahren. Meistens kam er erst am späten Nachmittag nach Hause, sodass meine Mutter viele Arbeiten im Stall und auf dem Feld alleine verrichten musste. Daneben hatte sie noch uns vier Kinder zu versorgen. Als ihr dann im Herbst 1943 eine junge Russin als Hilfe zugeteilt wurde, war das für sie eine spürbare Erleichterung.
An jedem Morgen war es so. In jeder Woche und jedem Monat, mit Ausnahme der Ferien. Es war nur ein kurzer Weg vom Haus seiner Eltern zum Bahnhof. In dem kleinen beschaulichen Ort, in dem es kein Gymnasium gab, war diese tägliche Bahnfahrt für ihn und seine Mitschüler erforderlich. Es war eine Nebenstrecke, auf der das alte Dampfross sich mit Pfeifen und Rumpeln durch die grüne Landschaft quälte. Wenn die vorsintflutlichen Waggons an der Station hielten, traf der Junge weitere Freunde, die bereits an der vorigen Haltestelle eingestiegen waren.
Im Herbst 1944 hatten wir unser Dorf vor der anrückenden Front verlassen müssen und waren in den nahe gelegenen Wald gezogen. »Es ist nur für ein paar Tage«, hatte mein Vater gesagt, als wir Bretter, Balken, Bettzeug, einen Tisch, eine Kanne voll Milch, ein Säckchen Kartoffeln und einige Lebensmittel aus der Vorratskammer auf den Pferdewagen luden. »Wir bleiben hier im Wald bis die Amerikaner kommen, dann können wir wieder zurück in unser Haus«, verkündete Vater abends, als die Bretterbude fertig aufgebaut war und wir uns total erschöpft an einem kleinen Feuer wärmten.
Gedicht Wann ist Friede in Berlin Programmzettel Programm des großen Kellerfests vom Club ›Licht aus!‹ Satirisches Gedicht frei nach “Der Erlkönig”. Wenn die Sirenen heulen
Vergangenheit? Wenige Worte: Beileid, Tapferkeit. Sind nie langlebig gewesen, die Männer unserer Familie. Wollte er sterben, vom Krieg gefressen? Kein Essen, den Sohn ins Wäschewasser geworfen, weiß gewaschen bei den Göttern deponiert, keine Zeit für Besuche, die Kinder wollen Essen, was hast du Feigling sie allein gelassen. Einer muss bleiben um klug zu werden, sie gaben dir nichts, damit du die Hoffnung nicht aufgibst, wartest, weil es zu wenig gewesen ist, um weiterzugehen, wer braucht in diesen Zeiten eine Lateinprofessorin, kein Essen am Tisch, wer ist der Ehemann.
Der November 1944 war besonders kalt und nass. Seit fast zwei Monaten hausten wir nun hier in einer Bretterbude am Waldrand, nachdem wir vor der heranrückenden Front geflüchtet waren. Es war nicht allzu weit entfernt von unserem Heimatdorf. Mein Vater war davon ausgegangen, dass wir wieder heimkehren könnten, sobald die Alliierten unser Dorf eingenommen hätten. »Heute Nachmittag«, so erzählte Vater eines Abends, als wir wieder einmal frierend am prasselnden Feuer vor unserer Behausung saßen, »habe ich deutsche Soldaten getroffen, die mir sagten, dass die Kameraden in den Westwallbunkern den Vormarsch der Amerikaner gestoppt hätten.
Es war Anfang Dezember 1944, der letzte Kriegswinter. Vor Kälte schlotternd, mit rotgefrorenen Wangen, stürmte ich ins Haus, um mich ein wenig aufzuwärmen. Als ich händereibend die sonst so heimelige Wohnküche betrat, schlug mir eine ungewohnte Kälte entgegen. Etwas Bedrückendes lag in der Luft. Statt meiner Mutter stand eine Nachbarin am Küchenherd und machte sich dort zu schaffen. Meine Mama, die hochschwanger war, saß mit ihrem unförmigen Leib am Küchentisch und hatte den Kopf auf ihre Hände gestützt.
»Morgen gibt es die letzten Zeugnisse von mir!« verkündete Lehrer Thoma uns, der vierten Schulklasse, einige Tage vor Ostern. Nun war das Ende des Schuljahres 1944 gekommen und jetzt musste entschieden werden, wer zum Gymnasium ging oder nicht. Ich hatte schon einige Monate vorher heimlich bei meiner Mutter mal nachgefragt, ob ich, wenn das Zeugnis gut wäre, auf die höhere Schule gehen dürfte. Mit meinem Vater darüber zu sprechen, traute ich mich nicht.
Wer von uns damals in den Jahren des Krieges den hinweisenden Namen “Iwan” benutzte, meinte damit im Allgemeinen Russland oder die russischen Menschen. Sozusagen als “Begriffsverwandtschaft” verstanden. Dabei musste das nicht negativ gemeint sein. Genau so wenig, wie die Deutschen von den Österreichern als “Piefke”, von den Franzosen als “Boche” oder den Niederländern als “Moffe” bezeichnet werden. Auch das muss nicht ausgesprochen abfällig gemeint sein. Der Name Iwan ist in Russland halt ein häufig vertretener Vorname.
Leseprobe Aus dem Roman Warum? Der lange Abschied ISBN: 3-8311-2089-7 Es war im Frühling 1944, ich war gerade sechzehn Jahre alt geworden. Die Zeiten wurden immer gefährlicher und erbarmungsloser. Wieder war ich auf mich allein gestellt, wieder war ich auf der Flucht. Ich stand verzweifelt im Bahnhof von Wilhelmshaven und fürchtete mich vor jedem, der mich ansah oder sich nur länger in meiner Nähe aufhielt. Die Züge fuhren sehr unregelmäßig. Ich hatte mir eine Fahrkarte nach Köln gekauft und musste warten.
1945 (Zur Erinnerung an Dich, Onkel Ernst) Fremder Mann, im üppig blühenden Sommergarten stehen wir uns gegenüber. Du, der Häftling aus Buchenwald, ich das sechsjährige Mädchen. Eigenartig schaust du aus. Dein Gesicht wie eine Maske, dein Körper nur ein Gerippe. Deine Augen schauen durch mich hindurch, du sprichst kein Wort mit mir. Bist du etwa stumm oder taub? Dein stumpfer Blick scheint nur auf die Blütenpracht gerichtet zu sein und ist doch so weit weg.
Wilder Mann (Der Geschichte erster Teil) Im späten Mittelalter, genauer gesagt im Jahre 1418, wurde in der Stadt Hildesheim am alten Markte das erste Fachwerkhaus errichtet. Ein Haus des Ackerbürgers war es und die Menschen, die in ihm leben durften, waren selbstbewusst und voller Freude. Sie waren Handwerker und mit Recht stolz auf das Geschaffene. Wenig mehr als hundert Jahre später stand ein junger Zimmergeselle vor eben diesem wunderschönen Haus und konnte sich nicht sattsehen.
Im Frühjahr 1945 kehrten wir in unser Heimatdorf zurück. Wir alle waren froh, dass das Haus noch stand. Etliche Granaten waren zwar eingeschlagen, aber das Dach war nur teilweise zerstört. Vater fand am nächsten Tag zufällig zwischen zwei zerschossenen amerikanischen Militärfahrzeugen ein paar noch gut erhaltene Autoabdeckplanen. Damit konnte er provisorisch die Löcher im Dach flicken, so dass es nicht mehr durchregnete. Meine Mutter machte sich große Sorgen, wovon wir wohl in Zukunft leben sollten.
Gemurmel im Hintergrund. Ihre Gäste reden von der Angst vor Kellergespenstern. Renates Gedanken driften in frühere Zeiten ab. Die Sirene heult ums Haus. Alte Bücher auf dem Speicher, ein Gesangbuch, »Bis hierher hat mich Gott gebracht…«. Tiefflieger, krachende Äste, heulender Sturm. Hinter einem kleinen Fenster, einem Ausschnitt im Dunkel, der tiefrote Himmel. Diese Erinnerungen plötzlich. Bilder, Rufen. »Mutter! Mutter!«, »Ruhe hier, was sollen denn die Kinder denken? Gehen Sie endlich wieder da hinten hin und bleiben Sie bei den anderen sitzen!
Am 14. Mai 1940 wurde der Stadtkern Rotterdams innerhalb von zehn Minuten dem Erdboden gleichgemacht. Der Angriff der deutschen Luftwaffe war eigentlich nur ein Versehen. Denn aufgrund eines Kommunikationsfehlers war die Bereitschaft der Niederlande zu Kapitulationsverhandlungen nicht rechtzeitig weitergeleitet worden. So starben 900 Menschen aus Versehen, 80 000 wurden aus Versehen obdachlos, eine der schönsten historischen Hafenstädte wurde unwiederbringlich zerstört. An diesem Tag wurde ich geboren. Mein Leben begann in einem Krieg, dessen Folgen uns noch heute, sechzig Jahre danach, begleiten.
Es beginnt schon zu dämmern, als unsere Nachbarn, die alten Friedrichs, an der Wohnungstür klingeln. Ich öffne und muss erst einmal »hochziehen«, bevor ich »guten Abend« sagen kann, denn ein Taschentuch führe ich in meiner Hosentasche nicht. Ich bibbere immer noch vor Kälte. Meine Knie in den kurzen Hosen, auf die ich selbst im Winter nicht verzichten möchte, sind rot und blau gefroren, weil ich den ganzen Tag draußen bei der Versorgung der Flüchtlingstrecks durch das Jungvolk geholfen habe.
Fortsetzung von »Pusteblumen im Winter« Sonderzug ins Land des Lächelns Wieder einmal stehen wir in trostloser Dunkelheit und klammer eisiger Kälte mit unseren Gepäckballen und Koffern auf einer fremden Straße in einer Stadt, von der wir nur den Namen kennen: Neuwied. Wir strecken unsere steif gewordenen Glieder nach dieser nervtötenden nächtlichen Busfahrt. Neuwied. Wir sind sozusagen rausgeschmissen worden. Alle sind ausgestiegen, auch die Männer in Zivil. Die werden schon wissen, wie es für sie weitergeht.
Aus dem Nichts schossen die metallenen Bestien urplötzlich über dem nahen Horizont empor, um sich sogleich auf die beiden erspähten Opfer zu stürzen. Wie Hornissen rasten sie in geringer Höhe über die unbestellten, kahlen Felder. Das Kind stand gebannt von dem Schauspiel und starrte mit großen, staunenden Augen in das aufblitzende Mündungsfeuer der beiden fliegenden Maschinengewehre. Bauer war noch zu unerfahren, die tödliche Gefahr zu erkennen, er versuchte instinktiv den Lärm abzuwehren und hob die kleinen Hände an die Ohren.
Es ist der Tag vor Heiligabend. Die Dämmerung ist hereingebrochen. Der Schnee vor der Tür löst sich langsam in kleine Rinnsale auf. Drinnen bei Großmutter ist es so richtig gemütlich. Das heruntertropfende Wachs der roten Kerzen im Adventskranz, der Duft der Bratäpfel und das ausströmenden Aroma des knisternden kleinen Tannenzweiges auf der Platte des Kamins vermitteln den Duft, der die Großmutter jedes Jahr in der Weihnachtszeit begleitet hat. Und nun soll sie wieder einmal erzählen, wie das “damals” war, Weihnachten 1945.
Ich war gerade 17 Jahre alt. In der Kleinstadt mit ihren 3000 Einwohnern in der Nähe von Danzig, in der ich aufgewachsen war, lebten wir wie in einer Dorfgemeinschaft. Wir kannten uns fast alle. Der Krieg nahm immer mehr an Härte und Brutalität zu. Menschenmaterial wurde an der Kriegsfront verheizt. Die Blüte der Jugend wurde im viel zu frühen Alter im Kampf für das Vaterland gefordert. Der größte Teil der Jugend wurde zur Infanterie oder Waffen SS einberufen.
Ende September 1945 verließ ich mit meiner Mutter die von russischen Truppen besetzte Insel Rügen. Ich war acht Jahre alt. Unser Ziel: den von den westlichen Alliierten kontrollierten Teil Deutschlands zu erreichen. Wochenlang waren wir auf Achse und fragten uns täglich: wie geht es weiter, ohne Proviant und ohne ein Dach über dem Kopf. Wieder im Straßengraben übernachten oder vielleicht doch in einer Scheune unterkriechen? Stets waren wir in panischer Angst, von russischen Patrouillen gefasst oder von Landsleuten denunziert zu werden.
Zu meinen Kindheitserinnerungen gehören verdunkelte Fenster, Sirenen und überstürzte Fluchten in den Luftschutzkeller. Jede harmlose Sirenenübung der Feuerwehr jagt mir noch heute einen Schauer den Rücken hinunter, weil der Ton gekoppelt ist an diese nächtlichen Vorgänge, die mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen. Als die Front damals näher rückte, blieb es nicht mehr bei der nächtlichen Flucht in den Luftschutzkeller. Die Bevölkerung der östlichen Gebiete Deutschlands wurde evakuiert. Das war im Februar 1945.
Räume, Orte, Menschen, Fahrzeuge, ein wirres Kaleidoskop. Immer wieder einpacken, aufbrechen. Die »Lappen Ella« an die Brust gedrückt. Ihr, der Lumpenpuppe, flüsternd Geschichten erzählen, sie aufmuntern, um die eigene Angst zu verlieren. Einer Liebe, die in all dem Chaos Sicherheit, Geborgenheit gibt, damit Angst und Schrecken, die permanente Ungeborgenheit nicht überhand nehmen, sich nicht ausbreiten, nicht lähmen oder sich in einem Gebrüll zur falschen Zeit Bahn brechen: »Um Gottes Willen Kind, sei bloß still, du bringst uns noch alle ins Grab!
Es waren junge Soldaten. Schüler, gerade 15 Jahre alt, als sie Anfang 1944 als Luftwaffenhelfer zu einer Flugabwehrbatterie eingezogen wurden. Diese lag zum Schutz eines großen Stahlwerkes in Georgsmarienhütte. Ich war einer von ihnen. Und zwar der Jüngste des Jahrgangs 1928, der als letzte Altersstufe zur Flugabwehrkampfwaffe (Flak) verpflichtet wurde. Dreimal in der Woche fuhren wir Jungen zu unserer Schule nach Osnabrück, um neben dem Dienst in der Stellung dennoch das Schulpensum zu erreichen und den geistigen Anschluss nicht zu versäumen.
Der Krieg führte uns zusammen, dich, den gefangenen französischen Offizier, der freiwillig bei meinem Großvater Dienst tat, und mich, das kleine deutsche Mädchen. In deinem Herzen brannte die Sehnsucht nach Heimat und Familie, in meinem die nach dem gefallenen Vater. Wir ergänzten uns gegenseitig. Du reichtest mir deine väterliche Hand, stilltest meinen Wissensdurst. Ich belohnte dich mit frischem Kinderlachen und kindlicher Unbefangenheit. Zärtlich nanntest du mich: »Bebe«, und ich dich liebevoll: »Monsieur Viktor«.
Iversheim bei Münstereifel kurz vor Kriegsende Kann man das Leben nennen, das wir hier führen, Anfang Februar 1945? Mit “wir” meine ich unsere übrig gebliebene kleine Familie: die Mama, den Hubert, unser Baby Brigitte und mich. Wir atmen noch in einem ständig von der feindlichen Artillerie beschossenen kleinen Dorf in der Voreifel. - Ja, Iversheim gibt es noch! In den verbauten engen kleinen Fachwerkhäusern ohne Kanalisation leben Menschen - an der Ley, eigentlich müsste es heißen “An der Erft”, denn diese plätschert ins Dorf hinunter.
Im Herbst 1945 begann ich meine Tätigkeit als Volksschullehrerin in einem pfälzischen Landkreis. Ich hatte ein paar Tage vor dem Eintreffen der Amerikaner gerade noch meine Ausbildung in der damaligen Lehrerbildungsanstalt mit dem 1. Examen abgelegt. Bis Ende 1944 hatte man sich zumindest in den ländlichen Gebieten bemüht, den Schulbetrieb wenigstens in den Volksschulen aufrecht zu erhalten, während die Oberstufen der Oberschulen bereits vollzählig zum »Schanzeinsatz«, also zum Ausheben von Schützengräben, eingezogen worden waren.
Die Milchkanne schlenkert um ihr Handgelenk, schlägt wider Willen gegen einen der Feldsteine am Rand der Dorfstraße, baumelt lange Minuten träge neben der Wiese mit dem Löwenzahn herum, klappert gegen den endlosen Lattenzaun, scheppert lustlos mit dem Deckel und hängt endlich zwischen braunen, grauen, karierten Wollröcken und Tuchjacken dicht über dem kühlen Terrazzofußboden im säuerlichen Dunst des Ladens. Die käsige Luft schwingt vom erregten Flüster-Stimmen-Gewirr. Keine klaren Worte, kein verständlicher Satz.
Dunkel war es gewesen, als die Mutter sie geweckt hatte. Sie hatte über das Hemdchen das Leibchen und darüber zwei Pullover und auch noch die Strickjacke anziehen müssen, und zwei Röcke. Eng war es im Mantel, gar nicht richtig warm, als sie in der kalten Januarluft zum Bahnhof trabten, die Mutter mit dem Koffer, der großen Tasche und dem Rucksack und sie mit den Schwestern an der Hand, Anna und Stänzel.
Der Winter 1946/47 war bitterkalt. Wir froren jämmerlich, hatten weder gute warme Bekleidung, noch Geld, um Kohlen zu kaufen. Wir, das waren meine Mutter, meine zwei Geschwister und ich, sechseinhalb Jahre jung. Wir waren zwei Jahre zuvor in einem in Polen noch eisigeren Winter in einem offenen Viehwaggon aus Posen geflüchtet. Dabei waren mir beide Beine bis zu den Knien erfroren. Zwei Jahre später litt ich noch immer an den Folgen dieser Erfrierungen.
Abschied nehmend geht entlang Dr. Morgenstern die Kremsergasse ihre Aura nochmals witternd bang weil er ja die Stadt nun doch verlasse. Seitdem man die Juden boykottiert hat ein Rechtsanwalt hier keine Bleibe, wo man jede Wand beschmiert damit man sie ja rasch vertreibe. Ungewiss scheint ihm das Los, das in Palästina ihn erwartet, Hier, St. Pölten schien Abrahams Schoß, Heimatliebe ist ihm eingeartet. Einsicht hat auch eine Zeit gebraucht, dass es mit der Gegenliebe hapert
Wir, meine Mutter, meine zwei Jahre jüngere Schwester (10) und ich, waren nach der Vertreibung aus unserer pommerschen Heimat im April 1946 und einer gar nicht lustigen Seefahrt von Stettin nach Travemünde auf einem ehemaligen deutschen Truppentransporter im Auffanglager Wimmersbüll bei Niebüll in Schleswig gelandet. Und bald fürchteten wir nichts so sehr, als unser weiteres Leben auf einer Sanddüne fristen zu müssen. Doch eines Tages hieß es, dass wir auf Dauer bei einer Familie im Dorf eingewiesen werden sollten.
Zu Weihnachten wurden Lichter ins Fenster gestellt - um die Verbundenheit mit den »Brüdern und Schwestern« im Osten Deutschlands zu zeigen. Päckchen wurden geschickt… »Wann werden endlich die Grenzen zwischen West- und Ostdeutschland aufgehoben sein«? Das schrieb ich in einer Tagebuchnotiz am 1.1.1955. Mit dreizehn Jahren habe ich mit allergrößtem Interesse die Diskussion um die Stalinnote verfolgt. Erich Dombrowski schrieb unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Stalinnote (10.3.52) die Kommentare in der Mainzer Allgemeinen Zeitung.
Am 17. Juni 1953 arbeitete mein Vater wie immer im Malergeschäft seines Vaters Willi Barth. Im Radio wurde von Unruhen und Demonstrationen berichtet. Am Nachmittag kam Dieter, ein Malerlehrling, zu uns. Ich spielte auf dem Hof. Dieter fragte nach meiner Mutter. Ich rief sie und hörte, wie er zu ihr sagte: »Frau Barth, Ihren Mann haben die Russen mitgenommen.« Meine Mutter war geschockt und starrte ins Leere, ehe sie leise fragte: »Dieter, wieso denn das?
Ich erinnere mich, daß ich als kleines Kind im Park unserer Wohnsiedlung in Warschau, sehr gerne mit meinem Ball am Denkmal eines Herrn mit großem Schnurbart gespielt habe. Ich habe den Ball gegen das Denkmal aus rotem Sandstein geworfen, und der Ball sprang wieder zu mir zurück, der joviale Herr auf dem Sockel, es war nur sein Kopf, lächelte mir dabei freundlich zu. Eines Tages war der Kopf weg, zugleich sah ich den Kopf dieses Herrn auf der Titelseite unserer Kinderzeitschrift, schwarz umrandet.
Ein fremdartiges Brummen, Dröhnen lag in der Luft, die Fensterscheiben zitterten. Sie stürzte zum Fenster und sah aus ihrer luftigen Höhe aus dem dritten Stock in der Warschauer Str. 165 in Ost-Berlin, Panzer durch die Straße rollen. Voller Freude entdeckte sie kyrillische Buchstaben. Das sind russische Panzer, dachte sie, da fahren Russische Soldaten, mit denen kann ich endlich mal wieder Russisch sprechen. Vielleicht ist ja auch einer aus Leningrad dabei.
Als am 4. März 1953 der Tod Stalins bekanntgegeben wird, hält die Welt den Atem an. Ein Mythos war tot. Für fast drei Jahrzehnte hat Stalin die Sowjetunion mit stählerner Hand regiert. Millionen Menschen sind seiner Politik zum Opfer gefallen. Der Georgier Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili wurde am 21. Dezember 1879 geboren. 1903 schloss er sich Lenin an, nach dessen Tod er durch Ausschaltung seiner Gegner zum Alleinherrscher wurde. Stalin hatte große Ziele.
Vor mir liegt das Foto. Format 6x9, schwarz-weiß, mit weißem, gezacktem Rand: ein sechsjähriger Junge im Museumspark in Braunschweig, schon ziemlich aufgeschossen für sein Alter, eine glänzende Schultüte im rechten Arm, das Butterbrot-Täschchen vor der Hüfte hängend. Sein Kopf ist leicht zur Seite geneigt, das aschblonde Haar sauber gescheitelt. Schüchtern und ein wenig verschämt grinst er in die Kamera. Er trägt einen quergestreiften Pullover, eine gestrickte, kurze Hose mit Trägern. Und lange Wollstrümpfe.
Haushaltsgründung 1955 Im Nachlass meines verstorbenen Vaters fand ich einen alten Stenogrammblock. Offenbar benutzten meine späteren Eltern ihn als Mittel zur Kommunikation: Am 1. Februar 1955 durften sie ihre Wohnung beziehen, für diesen Neubau hatte mein Vater damals DM 1.500,00 so genannten “verlorenen Baukostenzuschuss” zu zahlen. Meine Eltern heirateten am 19. Februar 1955, und die nachfolgenden Briefe sind innerhalb dieser Zeit (vom 1. bis 18. Februar 1955) geschrieben worden. Da meine Mutter an sechs Tagen pro Woche im Büro arbeitete und mein Vater anscheinend zu der Zeit Nachtschicht hatte, auch an den Wochenenden, war dieses die einzige Kommunikation zwischen ihnen.
…Zechen - Fördertürme - Staub - Bergleute »Ach Kind, weiße, dein Opa, dat war noch son richtiger Malocher, damals in den Fünfziger Jahren. Da waren noch 48 Wochenstunden Pflicht - auch samstags und sonntags mussten die Kumpels innen Pütt, die Kohle befördern. Die brachte Geld! Die Fördertürme durften nicht stille stehn. Dat war haate Knochenarbeit, wenn die Kumpels unter Tage in der siebten Sohle die Kohle locker machten und auf die Loren schippten.
Gut bürgerliches Neukölln, Hobrechtstraße, Seitenflügel, 2 Treppen. Dunkelbraun lackierte Holztreppen und gedrechselte, stets auf Hochglanz polierte Geländer. Die Frau des Hausmeisters verbrachte Stunden damit, jede einzelne Rundung blitzblank zu polieren. Alles musste zwanghaft glänzend und reinlich sein, geradeso als müsste fortwährend das Image von Fleiß und Sauberkeit zur Schau gestellt werden. Deutsche Tugenden, die einzigen, die uns geblieben waren? Wir Kinder mussten uns stets leise durch den Hausflur schleichen, wenn uns der Portier nicht erwischen sollte.
Steffi sitzt am Küchentisch, schnippelt Tomaten, Gurken, Zwiebeln für die Salate. Wischt sich eine Träne von der Wange. Lauscht ihrem Lieblingsschlager im Radio: Young love - first love. »Morgen bin ich volljährig«, denkt sie, »endlich 21. Dann kann mir keiner mehr was sagen, dann kann ich nach Hause kommen, wann ich will. Und was wird sich ändern? Mutti wird mir weiterhin jede Minute vorwerfen, die ich zu spät komme, was Vati denkt, weiß ich nicht.
Vorher und nachher ist es immer dunkel. Wegen der Nacht. Damit aber die dort wissen, wo oben und unten ist, haben sie sich die ganze Grenze hell erleuchtet. Für das Oben haben sie kleine Türme gebaut, in denen sie sitzen und herunter schauen können. Für das Unten haben sie sich einen Liegespiegel mit Rollen und einer langen Stange dran gebastelt. Da müssen sie sich nicht auf den kalten und dreckigen Boden legen und können trotzdem das Auto von unten sehen.
Einige Beimengungen aus der Zubereitungsmasse: 11. April 1968 Attentat auf Rudi Dutschke - 29. Mai 1968 Billigung der Notstandsgesetze im Bundestag - Krieg in Vietnam - 20/21. August 1968 Überfall der Warschauer-Pakt-Truppen auf die Tschechoslowakei - Herbst 1968 schwere Hungersnot in Biafra - 21.-27. Dezember 1968 zehn Mondumkreisungen der USA-Raumfähre Wenigstens in der Quizsendung von Hans-Joachim Kulenkampff gab es jedesmal einen, der gewinnen würde. Und sonst? Im Wohnzimmer. Im Fernsehen. In den Zeitungen.
Frankfurt - Bockenheimer Warte - Café DO Ein Steinwurf von der Uni. Nur warf man auf´s DO keine Steine. Man setzte sie dort - Meilensteine. Ulrike Meinhof, Baader… …später Cohn-Bendit. Erst im DO gesessen, dann zur Hausbesetzung. Doch es gab auch wirklich revolutionäre Aspekte. Weltbilder wurden geändert - im DO. Das Verhältnis von Mann und Frau wurde neu definiert. 1968 die eigentliche Revolution. Bis zu diesen Tagen gab es noch “das Ritual”.
*Are you experienced? Have you ever been experienced? Well, I have (Jimi Hendrix)* Abends um elf erreichen wir endlich Joe’s Wohnung. Dirks Freundin Karin ist auch mitgekommen, aber sie ist müde, und legt sich gleich ab. Außerdem ist ihr unser Vorhaben hochgradig suspekt. Nach 5 Minuten: “Merkst du was?” “Nö!” Eine halbe Stunde später: “Merkst du immer noch nichts?” “Nein, nichts.” So langsam schleicht sich der Verdacht ein, Lindas Bekannter könnte uns abgelinkt haben.
Ende September 68 war Micks Lehre beendet. Er hätte zwar sofort in einem kleinen Laden in Kronshagen als Geselle anfangen können, aber der Meister hatte zur Bedingung gemacht, dass er sich die Haare abschneiden ließe. Und das wollte Mick auf keinen Fall. Ohne seine schulterlangen Haare wäre er sich nackt vorgekommen. Also war Mick arbeitslos. Achtzehn Mark Stempelgeld gab es in der Woche - nicht genug zum Leben, aber ein klein wenig zu viel zum Sterben.
Der Sommer, in dem alles möglich war. Wissenschafter der unterschiedlichsten Richtungen versuchen seit einigen Jahren, jenen heißen Sommer mit dem Beginn der Informationsflut und der damit verbundenen sexuellen Aufklärung, die damals ihren Anfang nahm, zu erklären. Doch wer jenen Sommer bewußt erlebt hat, weiß, daß an dieser Erklärung mehr als nur etwas faul, und daß dies Gelaber einfach nicht wahr ist. Es war, als täte sich etwas Unerklärliches im Innern der Erde und oben, in den Lüften.
Daß Mai achtundsechzig sich nähert, merke ich nicht. Ich wohne weit weg vom Studentenviertel, lese nie Zeitung, was in Deutschland vor sich geht, dringt nicht bis zu mir und als es ausbricht, ist es für mich ein persönliches Abenteuer. Als die Studentenunruhen anfangen, spitze ich natürlich die Ohren, verfolge am Radio was passiert. Und ich fange an, Zeitung zu lesen, doch bald gibt es die nicht mehr. Die Studenten bringen die Gewerkschaften dazu, sich ihrer Bewegung anzuschließen, was sie schließlich aus ganz anderen Motiven tun.
Als Mick gegen Ende seiner Lehrzeit einsah, dass das Handwerk - zumindest für ihn - keinen goldenen Boden hatte, meldete er sich auf dem Abendgymnasium an. In seiner Klasse waren etwa 20 junge Leute, im Durchschnitt Mitte zwanzig. Ein gutes Drittel der Klasse war wie Mick eindeutig links, ein weiteres Drittel konnte man der »bürgerlichen Mitte« zurechnen, und der Rest war unpolitisch, nur am eigenen Fortkommen interessiert. Einige der Lehrer kannte Mick noch von seiner alten Penne, aber trotzdem war alles ganz anders als früher.
What goes up must go down. Spinning wheel gotta go round, talking ‘bout your troubles its a crying sin, ride your painted pony, let the spinning wheel spin. You got no money and you got no home, spinning wheel, all alone, talking ‘bout your troubles and you never learn, ride a painted pony let the spinning wheel turn. Did you find the directing sign on a straight and narrow highway?
Erinnerungs-Reise in drei Bildern Erstes Bild: Ein Fernsehbild, schwarz-weiß noch in jenen Tagen - und natürlich auch an jenem Wintertag des Jahres 1970, als er sich ereignete: der Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos. Er ereignete sich im Fernsehen. Heute würde man sagen: er ereignete sich für das Fernsehen, wie überhaupt nahezu alles von einiger Bedeutung sich ereignet, um gesendet zu werden. Damals aber, dachte ich nicht daran, dachten wir alle nicht daran, daß es das Fernsehen war, das uns den Kniefall zeigte.
Am 7. Dezember 1970 unterzeichnet Bundeskanzler Willy Brandt in Warschau einen Vertrag über die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen. Im Warschauer Vertrag wird die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens anerkannt und auf gegenseitige Gebietsansprüche verzichtet. Durch eine unerwartete Geste wird der Besuch Brandts zu einem Wendepunkt in der deutsch-polnischen Geschichte. Bei einer Kranzniederlegung am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus im ehemaligen Warschauer Ghetto kniet Brandt plötzlich nieder.
Er hörte es in den Abend-Nachrichten. In der westfälischen Stadt Rheine war am Nachmittag eine Bombe explodiert. Ein Blindgänger aus dem zweiten Weltkrieg. Ein schreckliches Ereignis, denn ein Bauarbeiter war bei diesem Unglück um sein Leben gekommen. Es war ein Toter zu viel. Was war geschehen? In der Stadt wurde ein neues Geschäftszentrum geplant. Direkt gegenüber vom Bahnhof. Die Vorarbeiten für dieses Objekt waren mit den Ausschachtungsarbeiten und der Trümmerräumung in vollem Gang.
Ich wurde 1966 geboren, also im letzten Jahr der Regierung Ludwig Erhards, mit dessen Namen man unwillkürlich selbst heute noch die Ära des so genannten Wirtschaftswunders verbindet. Wenig später sollten mit der Studentenrevolte ganz andere, für viele weniger beschauliche Jahre, in denen Pessimisten zeitweilig die Auflösung des Staates befürchteten, eingeleitet werden. Natürlich ging die zweite Hälfte der Sechziger für mich als Kleinkind recht ereignislos vorüber. Aus jener Zeit habe ich lediglich aus meiner eigenen kleinen Welt einen Krankenhausaufenthalt in deutlicher Erinnerung, bei dem mich Nonnenschwestern gegen meinen erklärten Willen mit Spinat zwangsfütterten, sowie einen Überfall mehrerer Kinder, die mir auf offener Straße ein trockenes Brötchen raubten, an dem ich friedlich gekaut hatte.
Am 5. September 1977 wurde der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitsgeberverbände, Hanns Martin Schleyer, in Köln von einem Kommando der RAF entführt. Damit begann der “deutsche Herbst”. Er fand sein blutiges Ende mit der Erstürmung der gekaperten Lufthansa-Maschine in Mogadischu, dem Selbstmord der RAF-Häftlinge in Stammheim und der Ermordung Schleyers, der 45 Tage in der Gewalt seiner Entführer war. Nach der Ermordung des Generalbundesanwalts, Siegfried Buback, am 7. April auf offener Straße und dem tödlich verlaufenen Versuch Jürgen Ponto, den Chef der Dresdner Bank, am 30.
Vom Einbruch des Schwachsinns in das tägliche Elend Wann saßen wir zuletzt mit Tränen auf den Wangen vor dem Fernseher? Zwei Jahre zuvor. Biermann sang uns zu und durfte nie nie wieder nach Hause. Wir blieben die Nacht auf, im Wohnzimmer meiner Mutter, und diskutierten die Tränen weg. Aber nun? Nichts als Ratlosigkeit. Guten Abend meine verehrten Damen und Herren. Die Nachrichten. Weltuntergang. Nach Informationen des Apocalypse Research Institute trat der Weltuntergang heute Nachmittag gegen 17.
Um 1984 lernten wir in den vierten Klassen der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschulen der DDR für den Frieden. Bewaffnet waren wir fast immer. Unsere Waffen waren vor allem Stöcke, Handfeuerwaffen oder Lockenwickler mit Luftballons hinten dran. Aus den Lockenwicklern konnte man mit Erbsen schießen. Für den Getroffenen war das in aller Regel schmerzhaft aber ungefährlich. Nur wenn es mal ins Auge ging, war es schmerzhaft und gefährlich. Die Munition ging uns nie aus.
1986 begann 1989: Das Kind musste wachsen. Unbedingt wachsen. Kind, wachs doch, weil nach deinem dritten Geburtstag wirst du stehen bleiben. Keinen einzigen neuen Strich werden wir am Türstock mehr ziehen können. Kein Millimeter mehr. Kind, beeil dich. Kind, wachs schneller, die Zeit. Eines Tages werden die Kirschbäume aufgeblüht gewesen sein. - Hatte Christa Wolf in der Zwischenzeit geschrieben. Nur wegen dem ROT der Kirschen, die gewachsen sind in den Jahren.
Am 26. April 1986 geschieht in einem ukrainischen Atomkraftwerk in Tschernobyl das angeblich im Restrisiko verborgene Unmögliche: der GAU. Durch mehrere Bedienungsfehler gerät der Reaktorblock 4 außer Kontrolle, der Reaktor brennt durch, es kommt zu einer Explosion, das Kernkraftwerk geht in Flammen auf. Riesige Mengen Radioaktivität werden freigesetzt. Zunächst soll der Unfall vertuscht werden. Die Bewohner der Umgebung ahnen nichts von der Gefahr. Manche sonnen sich unbekümmert am nächsten Tag vor ihrem Haus, beobachten neugierig den Reaktorbrand.
Ehemals war ich ein kleiner Schuljunge ohne Wissen und vor allem ohne Ahnung darüber, wie die Welt ihren Tanz auf’s Parkett bringt. Heute habe ich verstanden: was die Welt ausmacht, sind die Menschen in ihr und ihre Gedanken - sie sind es, die entscheiden, ob es ein langsamer Walzer oder ein Tango sein wird. Sie sind es, die entscheiden, wie schnell sie außer Atem kommt unsere Welt. Freilich, wenn die Musik schneller und schneller wird, kann sie irgendwann einmal nicht mehr mithalten und lässt uns entkräftet fallen.
Sommer 1989: Tausende DDR-Bürger kehren ihrem Staat den Rücken und fliehen über Ungarn, das den eisernen Vorhang durchtrennt hat, in den Westen. Andere flüchten in die bundesdeutschen Botschaften in Prag, Warschau und anderen Städten des zerbrechenden Ostblocks, um ihre Ausreise zu erzwingen. Aber auch im Lande selbst tut sich Unerhörtes. Mehr und mehr Menschen wagen mehr Demokratie und gehen auf die Straße. Die Montagsdemos in Leipzig gebären den Mythos der Heldenstadt.
Im April 1989 besuchte ich meine Freundin Margot in der DDR, die mich zu sich in die kleine brandenburgischen Stadt zur Jugendweihe ihres Sohnes Christian eingeladen hatte. Die DDR kannte ich fast nur aus der Zeitung. Nur auf kurzen Urlaubsreisen hatte ich eigene Eindrücke gewonnen. Das »bessere Deutschland« wollte es sein, zumindest war dies der Anspruch vieler seiner Bürger. Und nun hatte ich die Gelegenheit, eine Jugendweihe zu erleben, eine Zeremonie, die aus jungen DDR-Bürgern vollwertige Mitglieder des sozialistischen Staates machen sollte.
Dreimal waren sie Hand in Hand um das Brandenburger Tor gelaufen, sie konnten es nicht fassen, sie mussten es beschwören wie im Märchen. Die magische Zahl drei. Wenn danach immer noch alles so war, wie es gewesen war, dann war es Wirklichkeit. Wahrhaftig wahr. Die Wiedervereinigung, es gibt sie. Mit der S-Bahn die Strecke über Friedrichstraße fahren, einfach so weiter: keine Schikane, keine Grenze. Jederzeit! Unfassbar! Seit 1953, als sie mit ihrer Familie rüber gemacht hatten, war Petra alleine diesen Weg, diese Einbahnstraße von West nach Ost gegangen, hat sich den zahlreichen Schikanen ausgesetzt und ist doch immer und immer wieder gekommen, um die alte Schulfreundin Barbara und deren Familie und Schwester zu besuchen.
Der Arzt kam diesmal ohne Mundschutz. “Ansteckend sind Sie nicht”, sagte er. Aber davon fühlte ich mich auch nicht besser. Ich wußte, daß ich schwer krank war, wahrscheinlich schwerer, als ich überhaupt wissen wollte. Abgesehen von meiner Schwäche und den diffusen körperlichen Beschwerden gingen merkwürdige Dinge in mir vor. Vertraute Worte fielen mir entweder nicht mehr ein, oder ich konnte keine Verbindung zu ihrer Bedeutung herstellen. Die eigene Telefonnummer war mir entfallen.
Gerüchteweise davon gehört habend, luden wir uns abends um halb 11 bei dem Besitzer eines Fernsehgerätes zu den “Tagesthemen” ein. - Da sich irgendein noch geschichtsträchtigeres Fußballereignis dazwischengeschoben hatte, ließen die Tagesthemen auf sich warten. Auf dem Bildschirm liefen Leute einem Ball nach; und immer wieder ertönte, als sattsam bekannte Fanfare unseres zeitgenössischen kulturellen Lebens, das kraftvolle, vielstimmige “Ha-a-a-a-aaaaa.” - Ich reparierte derweil das Bett unseres Gastgebers, welches kurz vor unserem Eintreffen zusammengebrochen war; und als die “Tagesthemen” dann doch noch begannen (das Fußballereignis war wohl nicht wichtig genug, um sie völlig zu verdrängen) war ich eben fertig damit.
Seit Anfang September war ich (damals 16) nun hier, und bisher wars auch ganz gut so, hier; Die kurz nach Beginn des kalten Krieges einsetzendn Bemühungen um die sog. deutsch-französische Freundschaft waren auch an meiner Schule nicht spurlos vorrübergegangen, und ich hatte - nachdem meine Eltern sich jahrelang erfolglos bemüht hatten - mich endlich nach einem 14-tägigen Besuch von Franzosen an unserer Schule bereit erklärt, ein dreimonatiges Gastspiel an der “Ècole Internat Rudolph Steiner Laboissiérre-en-Théle” zu wagen.
Eine Polemik Wie vermisse ich diesen Satz, vermisse dieses Signal des Stammtisches, der großformatigen Zeitung, diese weiße Fahne der Dummheit, die immer dann aufgezogen wurde, wenn die Argumente nicht mehr ausreichten. Nicht, daß ich diesem Rat gefolgt wäre. Der Unterschied zwischen “Real existierendem Sozialismus” und “Kapitalismus mit menschlichem Antlitz” war mir sehr wohl bekannt. “Im Kapitalismus beutet der Einzelne die Massen aus. Im Sozialismus ist es genau umgekehrt.” Treffender als in diesem alte DDR-Witz kann niemand beschreiben, was östlich der Elbe lief.
Im Übergangszustand Ostdeutschlands Große rote Lettern stechen aus der Warntafel hervor: “Objektbezogene Alarmierung bei Bränden und Havarien”. Dieses Plakat im Treppenhaus des Chemielaborgebäudes in der August-Bebel-Straße war einer meiner ersten prägenden Eindrücke in Jena. Und auch während des gesamten Semesters, in dem ich hier Chemie studierte, zeigte es mir immer an, daß ich hier noch nicht ganz zu Hause war. In Jena sprach man von “Zielstellung” statt “Zielsetzung”, Kunststoffe ware hier “Plaste und Elaste”.
Volkskammerwahl März 1990 Zum ersten Male ohne Hammer rief man das Volk zur Wahl der Kammer. Die Farben waren buntgemischt, viel stumpfer Lack nur aufgefrischt, jedoch ein westlich angehauchtes Rötlich erwies sich später fast als tödlich. So gingen denn auch die Prognosen mit Hochdruck in die Schlotterhosen! Man wählte den, der mehr versprach, und sparte sich das Ungemach, die Rechnung nachzukontrollieren, ließ lieber sich vom Schein verführen. Dem Kandidaten Böhme, Ibrahim*,
Roman Leseprobe: Daß etwas Altes, Erneuerungsbedürftiges in unserem Land zu Ende ging, merkte ich deutlich und ganz persönlich bei unseren monatlichen Frauentreffen. Jedesmal fehlten mehr. Das war kein Wunder. Regelrecht vernarrt war ich in das Feindbild unserer politischen Gegner; und so drehte sich unsere Diskussion im Kreis, war unproduktiv. Ich konnte ihnen weder das politisch gute Gefühl, noch das vereinsmäßig gute Gefühl, das Gefühl der Geborgenheit, des Aufgehobenseins erhalten. Am Ende blieb Leere und Hohlheit in den Worten, in den Gedanken.
Seit dem Jahre 1991 verbinde ich mit meinem Geburtstag den Ausbruch des Golfkriegs. Mein Mann war zu diesem Zeitpunkt Unteroffizier in der britischen Rheinarmee und stand mit seinen Leuten am 17.01.91 an der Grenze zum Irak. Es wurde das traurigste Weihnachten, und als der Morgen des Abschieds nahte, konnte niemand die Empfindungen in Worte fassen. Wir klammerten uns aneinander, unser kleines 3 Monate altes Söhnchen zwischen uns. Ich war die einzige Ehefrau, die den Männern zum Abschied winkte.
Am 17. Januar 1991, knapp 19 Stunden nach Ablauf des UNO-Ultimatums zur Räumung Kuwaits, beginnt die Operation “Desert Storm”. Unter dem Oberbefehl des Vier-Sterne-Generals Norman Schwarzkopf fliegen 1.500 Flugzeuge Luftangriffe gegen Bagdad und strategische Ziele wie Waffenfabriken, Munitionsdepots, Flugzeugbasen und Raketenstellungen. Saddam Hussein, der im August 1990 Kuwait besetzt hatte, ruft alle Iraker zum Kampf gegen das Böse auf; die Mutter aller Schlachten habe begonnen. Der Golfkrieg wird ein TV-Spektakel, eine einzige große Werbeshow für moderne Waffensysteme.
Kuwait war überrannt, greifen die internationalen Streitmächte an? Er brach 1991 aus, der von allen bemerkte Golfkrieg. Der Krieg entstand 1990, während ich noch bei der Bundeswehr war und betraf den Einmarsch der Irakis in den Kuwait. Januar 1991 war ich bereits aus der Bundeswehr entlassen. Die Flugabwehrstaffel, in der ich stationiert war, hätte in die Türkei zur Grenze in den Irak verlegt werden können, eine Schwestereinheit wurde dorthin verlegt. Wir hatten innerhalb der Bundeswehr viel darüber diskutiert, insbesondere mit denen, die als Wehrpflichtige einberufen wurden und sich dann als Zeitsoldat verpflichteten.
Im August 1992 bereiste ich mit meinen Eltern die Südstaaten der USA. Unsere Reise führte uns unter anderem auch nach Memphis. Im Radisson Hotel abgestiegen, vernahmen wir schon bald von einem herannahenden Hurricane, der gerade über Florida zog und sich nun bedrohlich New Orleans näherte. Dies wäre unsere nächste Station auf der Reise gewesen. So kam es, dass wir uns zwischen Graceland, Raddampfer-Fahrt auf dem Mississippi und anderen Aktivitäten regelmäßig im Hotelzimmer einfanden, um den Weather Channel zu konsultieren.
Sonntag, den 12. Januar 1992 Neujahr hab ich dieses Jahr zweimal hintereinander gefeiert; zuerst nach Wolgograder Zeit und eine Stunde später dann nochmal nach Moskauer Zeit. In kleinem Kreis bei Freunden; entgegen meinen sonstigen Gepflogenheiten: vorm Fernseher. Zuerst lief der Wolgograder Sender; und als dort Neujahr durch war, schalteten wir um auf den Moskauer und harrten dem nächsten Jahreswechsel. Diese Neujahrsfete am Fernseher war nicht einmal so uninteressant. Im Gegensatz zu den westlichen Neujahrsprogrammen war da kaum ausgearbeitete Gekünsteltheit (trotz des offensichtlichen Bemühens, sie nachzuahmen).
Bus fahren Steig ein steig ein wir fahren Bus nach Omarska Bergwerk Omarska weißes Haus Steig ein steig ein wir fahren Bus nach Omarska auf den von Touristenärschen durchgesessenen Sitzen hocken Mercedes, Magirus, MAN, Setra, Ikarus Steig ein steig ein Bus nach Omarska da werden alle Fenster verdunkelt im Sommer, im weißen Sommer und die Heizung aufgedreht: mich dürstet! SCHWEIG glücklich, die, die Essig trinken dürfen Steig ein steig ein
Wenn sich in den 80er Jahren eine halbe oder eine ganze Million Menschen in irgendeiner Weise versammelte, dann handelte es sich dabei in der Regel um einen Ostermarsch, irgendeinen Kirchentag oder sonstige Skurrilitäten. Am Rande habe ich zumindest ersteres noch mitbekommen, wobei meine Erinnerung auch nicht mehr so weit reicht, dass ich Details skizziere könnte. Das einzige, was ich noch weiß, ist, dass es grundsätzlich eine Veranstaltung gegen irgendetwas war. Gegen Reagan, gegen Pershing, gegen Chauvinismus und gegen kleine gelbe Tierchen mit roten Punkten …
Energie verpufft so schnell, mein Gott ! Ich möchte von einer Erscheinung erzählen, von einem Himmelskörper, einem magischen Moment, vielleicht. Das Jahr 1997, irgendwann im März. Wir hatten uns in der Nebensaison ein Ferienhaus gemietet, im höheren Norden Dänemarks, Lønstrup. Nach einiger Zeit voll durchwachter und durchspielter Nächte, exzessiver Strandgänge und von Gischt benetzter, und die dennoch strahlende Frühfrühlingssonne begrüßende, Haut hatten wir uns doch endlich entschlossen, an eine Grenze vorzudringen.
Routiniert im amtlichen Beenden von amtlich sanktionierten Beziehungen - sprich: Scheidungen, war mein Talent 1997 wieder einmal gefragt. Im Vorgriff auf die ab 1998 gültige, aber schon verabschiedete Sorgerechtsmodifikation wollte ich mich diesmal nicht von meinen Kindern scheiden lassen, wie das sonst zwangsläufig üblich war. (bei der Premiere) klärte mich der Familienrichter noch über die Wertstellung einer Vater-Kind-Beziehung so auf: “Die schlechteste Mutter ist besser als der beste Vater…!” Zur selbsterfüllenden Prognose wurde diese Einstellung damit manifestiert:
»Anfang des 20. Jahrhunderts haben zwei neue Theorien unsere Vorstellungen von Raum und Zeit, ja der Wirklichkeit selbst, gründlich verändert. Mehr als fünfundsechzig Jahre später sind wir noch immer damit beschäftigt, ihre Konsequenzen zu sondieren und die beiden Systeme zu einer einheitlichen Theorie zusammenzufassen, die - wenn dies gelänge - alles im Universum beschriebe.« —S.W. Hawking Unsere kleine Geschichte - wir wissen nicht genau, ob es sich um eine Komödie oder Tragödie handelt - spielte sich an der Schwelle zum Jahr 2000 ab.
Sie hat viel erlebt, die alte Standuhr. Jetzt ist sie siebzig Jahre alt. Jedenfalls wurde sie vor siebzig Jahren im Geschäft eines Uhrmachermeisters erworben. In Gronau an der Leine. Vielleicht ist sie ja auch schon ein paar Jahre älter, weil sie nach ihrer Fertigung etwas warten musste, bis der Meister sie meinem Vater verkaufen konnte. Möglich, dass sie zum 10jährigen Hochzeitstag meiner Eltern in unser Haus kam, dann müsste das im März 1930 gewesen sein.
Ich erinnere mich nicht an das Wetter an diesem Tag.Wahrscheinlich war es ein ganz normaler Spätsommertag im Badischen. Ich hatte Mitteldienst im Kulturprogramm. Sehr angenehm, kein frühes Aufstehen! Der Dienst begann um 11 Uhr 30. Eine halbe Stunde war Übergabezeit. Das Pult musste ich erst mit der Mittags-Nachrichtensendung um 12 Uhr übernehmen. Alles Business as usual. Im Reichstag eröffnete Bundestagspräsident Rudolf Seiters die 185. Sitzung des Deutschen Bundestages. Keine besonderen Vorkommnisse, keine Themen, an die ich mich sonst noch erinnern kann.