Sie hat viel erlebt, die alte Standuhr. Jetzt ist sie siebzig Jahre alt. Jedenfalls wurde sie vor siebzig Jahren im Geschäft eines Uhrmachermeisters erworben. In Gronau an der Leine. Vielleicht ist sie ja auch schon ein paar Jahre älter, weil sie nach ihrer Fertigung etwas warten musste, bis der Meister sie meinem Vater verkaufen konnte. Möglich, dass sie zum 10jährigen Hochzeitstag meiner Eltern in unser Haus kam, dann müsste das im März 1930 gewesen sein. Genau kann ich es nicht mehr wissen, denn ich war damals noch zu klein. Aber an den Laden des Uhrmachers, der sich nur wenige Schritte neben unserem Haus befand, kann ich mich noch gut erinnern. Selbst der Name des Meisters ist mir noch geläufig. Drei innenliegende Sandsteinstufen führten neben dem Schaufenster in sein Geschäft. Immer, wenn ich mit Mutter oder Vater daran vorbeiging und bei schönem Wetter die Ladentür geöffnet war, blieb ich eine Weile stehen und schaute neugierig hinein. Die vielen Uhren faszinierten mich. Ich bestaunte dieses verwirrende Ticken der Perpendikel. Und auch die dunklen Gongschläge der großen Standuhren, das helle Klingen der Wanduhren und die Kuckucksrufe aus den Schnitzwerken des Schwarzwaldes. Mitunter, wenn er Zeit hatte, nickte mir der Meister zu und lud mich mit einer Handbewegung ein:
Komm herein und sieh dir die Uhren an! Einmal sagte er lächelnd: Es sind wundervolle Uhren, die du hier sehen kannst, aber die schönste steht natürlich in eurer Wohnstube. Vater war eben ein guter Kunde und das vergaß der Meister nicht.
Sie war ein Schmuckstück unter den Möbeln unserer Wohnung. Und wenn sie sich auch nicht mit großem Pomp und vielen Schnitzereien präsentierte, so war sie doch in ihrer Schlichtheit, vor allem Vaters ganzer Stolz. Sie wurde gewissermaßen von ihm mit Respekt behandelt. Wir Kinder durften sie wohl bestaunen, wenn sie zur vollen oder halben Stunde ihren dunklen schönen Klang aussandte, den wir Gong-Gau nannten, doch öffnen oder gar aufziehen war für uns tabu. Das war allein Vaters Aufgabe und diese nahm er pünktlich und mit großer Sorgfalt wahr. An jedem Sonntag wurde sie um 10 Uhr am Vormittag aufgezogen und, wenn erforderlich, mittels einer winzig kleinen Schraube am langen Perpendikel nachreguliert. Aber wann war das schon einmal nötig? Sie ging auf die Sekunde genau und das wurde wiederum um 12 Uhr mittags am Zeitzeichen der deutschen Seewetterwarte über das alte Radio kontrolliert. Immerhin waren Ausdrücke wie Quarzwerk oder Funkuhr oder radio controlled noch nicht existent. Gab sich also der Vater achtungsvoll und behutsam der technischen Seite der Uhr hin, so wurde ihr dunkles Holz von Mutter gehegt und gepflegt.
Wenige Jahre später siedelte die Familie in eine größere Stadt um. Ich denke mal, dass das Verladen der Uhr auf den Möbelwagen für Vater ein sorgenvolles Unterfangen darstellte. War sie doch so etwas wie sein Augapfel. In der neuen Wohnung bekam sie ihren Platz im Esszimmer.
Hier wirkte sie, so meinten meine Eltern, unter der hohen Stuckdecke besonders attraktiv. Kaum hatten wir uns eingelebt, als auch die Standuhr wieder sekundengenau ihre vertrauten Klänge von sich gab. Nur einige Tage waren nötig, sie an den neuen Ort zu gewöhnen.
Doch nach einigen Jahren war wieder ein Umzug in eine andere Stadt erforderlich. Es war etwas mehr als ein Jahr vor dem Krieg. Nicht nur wir Kinder mussten uns an eine neue Schule, an neue Freunde gewöhnen. Auch die alte Uhr stand nun im Wohnzimmer, separat und damit hervorgehoben an einer Querwand. Hier war alles moderner. Schlichtere Räume mit weniger Höhe und ohne die alten Stuckdecken, deren Umgebung bislang andere Maßstäbe setzten. Die Uhr hatte mit den anderen Möbeln ein wenig Kaiserreich hinter sich gelassen.
Der Krieg ging über die Welt. Bomben kamen. Und bald klangen die für den wunderbaren Gong des Schlagwerkes verantwortlichen Resonanzstäbe in der Uhr wie leises Weinen. Durch die Erschütterungen des Hauses schlugen die Stäbe aneinander und erzeugten Disharmonien. Sie jammerten Widersprüchliches, das vielleicht an friedlichere Tage erinnern sollte. Es war manchmal, als sei auch der Uhr die versöhnliche Zeit abhanden gekommen. Der Krieg ging nach vielen Jahren zu Ende. Ein zunächst trügerischer Frieden wurde noch lange von Enttäuschungen und Verzweiflung dominiert. Das Leid verblasste zwar mit der Zeit, doch viele Sorgen blieben über Jahre bestehen. Vor allem die Menschen, die ihre Heimat und damit den größten Teil ihrer Habe verloren hatten, waren zu den zunächst Ärmsten zu zählen.
Haus und Hof, Möbel und Wertvolles gingen verloren. Darunter sicher auch manche Standuhr, die mit der hier beschriebenen vergleichbar war. Uns war sie geblieben und die traurigen Töne, die einmal durch die Erschütterungen entstanden, waren vergessen. Die Sonne eines Friedens wollte wieder scheinen. Sie kam aber nur ganz zaghaft durch den Nebel zurück.
Es gab in dieser Zeit einen schwarzen Markt. Auf ihm wurden Tabakwaren gegen Butter, Eier gegen Armbanduhren oder Kaffee gegen Lebensmittel getauscht. Da dies verboten war, wurden nicht nur auf den für diese Märkte bekannten dunklen Plätzen sondern auch in den Häusern der Bevölkerung Razzien seitens der Militärregierung durchgeführt. Wenn also jemand durch bestimmte Bezugsquellen über knappe und wertvolle Dinge verfügte, die er im Laufe der Zeit tauschen wollte, so sorgte er für gute Verstecke, in denen solches aufbewahrt wurde. Und hier kam für unsere Familie als treuer Helfer wieder unsere alte Standuhr zu Ehren.
Sie hatte unterhalb der beiden schweren Gewichte des Gang- und Schlagwerkes einen sehr geräumigen Hohlraum in den ein geeignetes Brett aus gleichem Holz eingepasst wurde. Ein hervorragender und kaum zu untersuchender Platz für schwarze Tauschware. Es war eben eine Uhr, die zur Familie gehörte.
Und dann kam das Gerücht: Von der Beschlagnahme der Wohnungen in unserem Stadtteil, der eine bevorzugte Wohnlage im Ort darstellte. Für britische Offiziersfamilien sollten entsprechende Requirierungen vorgenommen werden. Es hatte zur Folge, dass viele Familien, so auch wir, Möbel und Einrichtungen, die sie für wertvoll hielten, bei bekannten und befreundeten Menschen im Umland unterbrachten.
So wurde auch die alte Uhr fast stumpfsinnig auf einen dreiräderigen offenen Tempowagen verladen und verfrachtet. Eine solche Odyssee hatte die Uhr noch nicht durchstehen müssen. Die Fahrt war so rumpelig, dass nicht einmal die Klangstäbe mehr zum Weinen kamen. Aber es wurde ohne Schrammen und Scherben überstanden. So wie auch eine spätere Rückreise auf gleiche Weise. Dann nämlich, als sich längst herausgestellt hatte, dass dies alles nur ein Gerücht gewesen war.
Schließlich wurde der Vater in eine Hafenstadt an der Nordsee dienstversetzt. In der Zweitwohnung wurde wohl die alte geliebte Standuhr und ihr vertrauter Klang vermisst. So ergab es sich eines Tages, dass die Uhr ebenfalls eine neue Reise an die Küste antrat. Und auch hier versah sie nach wenigen Tagen des Einpendelns jahrelang ihren gewohnten Dienst. Sie verkündete die Zeit, wie immer sekundengenau. Auch die alte Gepflogenheit meines Vaters, sie jeden Sonntagvormittag pünktlich mit Sorgfalt aufzuziehen, war weiterhin ein nicht wegzudenkendes Ritual.
Nachdem die Eltern starben, kehrte die Standuhr in mein heutiges Domizil zurück. Diesmal transportiert im VW-Golf unserer Tochter, in den sie trotz ihrer Größe hineinpasste. Welch Unterschied zu der gleich nach dem Krieg erfolgten Tempo-Fuhre.
Nun steht die Uhr schon einige Jahre in unserem Wohnraum. Und in diesem Moment des Schreibens höre ich sie zwölfmal schlagen. Genau so schön wie in den siebzig Jahren die hinter ihr liegen.
Als mein Freund Klaus am Silvestertag 1999 aus Köln anrief, während sie gerade ihre angenehmen Klänge von sich gab, meinte er: euer Dom läutet. Und er setzte den Gedanken fort: Heute, am letzten Tag dieses Jahres, klingt mit deiner alten Uhr das Jahrhundert aus.
Wie Recht er hatte, den größten Teil dieses Jahrhunderts hat sie mit ihrem Klang begleitet. Möge sie noch lange ihr wohltuendes Gong-Gau erklingen lassen, zur Freude derer, die Erinnerungen eines Lebens mit ihr verbinden.