Wenn sich in den 80er Jahren eine halbe oder eine ganze Million Menschen in irgendeiner Weise versammelte, dann handelte es sich dabei in der Regel um einen Ostermarsch, irgendeinen Kirchentag oder sonstige Skurrilitäten. Am Rande habe ich zumindest ersteres noch mitbekommen, wobei meine Erinnerung auch nicht mehr so weit reicht, dass ich Details skizziere könnte. Das einzige, was ich noch weiß, ist, dass es grundsätzlich eine Veranstaltung gegen irgendetwas war. Gegen Reagan, gegen Pershing, gegen Chauvinismus und gegen kleine gelbe Tierchen mit roten Punkten …
Schnitt - die 90er Jahre.
Es war in der Entwicklung von House und Techno eigentlich unvermeidlich, dass eines Tages ein Event entstehen würde, das in regelmäßigen Abständen über allem schweben würde. Die Grundanlagen dazu lagen bereits in der Szene an sich. Wer alles von außen betrachtet, wird das Gerede rund um die bewährte Floskel “Love, Peace, Unity” wahrscheinlich kaum nachvollziehen können. Entweder wird dann versucht, dieses Statement im Sinne früherer Protestbewegungen zu interpretieren, oder man deklariert es als Küchenphilosophie, die lediglich einer reinen Funorientierung nachträglich übergestülpt wurde. Richtig ist keines von beidem.
Ob im Club oder auf dem Rave das Gegenüber männlich, weiblich, schwarz, weiß, hetero, bi oder homo war, interessierte nämlich eigentlich nie jemanden. Zumindest nicht auf denjenigen Veranstaltungen, die von der Szene selbst getragen wurden. Ob dann daraus lediglich ein gemeinsam erlebtes Event wurde, oder das eine oder andere feuchtfröhliche Abenteuer, machte letztendlich auch keinen Unterschied mehr. Jedenfalls funktionierte hier etwas, was in dieser Form auf Rockkonzerten und Protestveranstaltungen jeglicher Art definitiv nicht stattfand. Und wenn aus wenigen Beteiligten ganze Massen wurden, konnte dieses Feeling eigentlich nur potenziert werden. Vorausgesetzt, die Menge an unbeteiligten Zaungästen hielt sich einigermaßen in Grenzen.
Potsdam, 12. Juli 1996
Ich war irgendwann gegen Abend eingetroffen und fand mich in einem Studentenwohnheim irgendwo hinter dem Schlosspark wieder. Bier, Zigaretten, ungefähr doppelt so viele Menschen, wie diese Gebäude normalerweise Bewohner hatten. Die Legende von der Love Parade des Jahres 1995 hatte sich bereits im Land herumgesprochen. Eine Horde von knapp 400.000 Menschen, die den Ku’damm entlanggewalzt war, um sich schließlich auf dem Tauentzien zu drängeln. Der Weg wurde dabei mehr oder weniger ohne Rücksicht auf Hindernisse zurückgelegt. Ging ja gar nicht anders.
Die Gesichter einiger Besitzer von Fahrzeugen, die der Ansicht waren, diese auch an besagtem Tag bedenkenlos am Straßenrand parken zu können, dürften wohl ein für allemal in Erinnerung bleiben. Nun gut, ein Mercedes, der 15 Zentimeter niedriger ist als vorher, ist doch immer noch ein Mercedes. Und Autodächer sind nun mal leider nicht auf das Gewicht von 10 jugendlichen Personen ausgelegt ;o).
Das Ergebnis war die Umquartierung der ganzen Veranstaltung in den Tiergarten, wobei eigentlich kaum jemand genau wusste, wie dieses Event an diesem neuen Ort werden würde. Einige Quälgeister propagierten wieder ihr “dieses Jahr wird alles viel schlechter und kleiner”, woran man sich im Lauf der Jahre aber noch gewöhnen sollte. Wer die Stimmung in den Clubs in den Tagen davor erlebt hatte, konnte ungefähr ahnen, was kommen würde. Es gab eigentlich niemanden, der nicht bereits seine Taschen gepackt hatte. Oder auch bewusst darauf verzichtete, um die Feierlichkeiten hemmungslos auf mindestens 48 Stunden ausdehnen zu können.
Am Vorabend gab es in Potsdam eine eher privat angehauchte Feier. Wie alles, was irgendwie in dieser Gegend stattfindet, natürlich auch wieder auf die ganz eigene Art. Über die Musik in den Kellergewölben eines russischen Offizierscasinos konnte man sich streiten, aber die Stimmung war etwas recht eigenwilliges. Wie lange wir da waren, weiß ich nicht mehr so genau, das Bier war dafür wohl einfach zu billig. Einige Stunden Aufenthalt auf einer Wiese vorm Haus folgten, unterstützt von diversen Trommeln und sonstiger Percussion, anschließend einige Wohnheimzimmer, um schließlich auf nicht genau nachvollziehbaren Wegen im Schlosspark Sanssouci zu landen, irgendwo auf einem Hügel. Bedauerlicherweise waren in diesem Moment jegliche Getränkevorräte erschöpft. Barocke Tempelatrappen, Mond und Sterne waren aber auch so in harmonischer Verdoppelung ganz nett anzusehen ;o).
Berlin, 13. Juli 1996
Volle S-Bahnen hat wahrscheinlich jeder schon erlebt. Aber ein Zug randvoll mit Ravervolk ist dann doch wieder etwas anderes. Ob die Party nun in zwei, drei oder vier Stunden beginnt, spielt dabei einfach keine Rolle mehr. Es wird schonmal mit dem Feiern angefangen. Basta. Das führte zwar an diesem Tag zu unendlich verlängerten Fahrzeiten, aber auch die paar anwesenden Normalsterblichen schienen die Bummelfahrt begleitet von Getriller und Gejohle einigermaßen zu ertragen. Ich war dann irgendwann zwischen eine Familie gequetscht, die diesen wunderschönen Tag anscheinend für einen geruhsamen Einkaufsbummel in der Innenstadt nutzen wollte.
Kaufen musste ich auch noch etwas, das hatte allerdings eher andere Gründe. Es macht grenzenlos Freude, eine Wette zu verlieren und während einiger Stunden Love Parade eine viel zu teure Flasche Zinfandel durch die Gegend zu schleppen, ohne diese öffnen zu dürfen (hallo Alex). Die Idee mit den Schließfächern war anscheinend nicht so gut. Zumindest wurde das klar, als wir gegen Mittag nach einem kurzen Abstecher ins KaDeWe vor dem Bahnhof Zoo standen und irgendwie versuchten, reinzukommen. Wie gesagt, wir versuchten es, aber es wollte nicht so recht klappen. Die Flasche wurde demzufolge einige Stunden gut durchgeschüttelt und ich bin bis heute ganz glücklich darüber, dass ich den Inhalt nicht mehr selbst konsumieren musste ;o).
Irgendwann fanden wir uns dann auf halbem Weg zum großen Stern wieder, leerten die eine oder andere Sektflasche und fühlten uns dabei ziemlich gut. Es war gleichzeitig das erste und letzte mal, dass ich zu solchen Anlässen versuchte, irgendwie eine Kamera zu benutzen. Es ergab sich zwangsläufig die Frage, was denn nun eigentlich photographiert werden müsse, zumal das mit diesem giftgrünen Pappkarton schon ein Problem an sich war, irgendetwas vernünftiges anzustellen.
Nach einigen missglückten Versuchen, die Veranstaltung selbst auf Bilder zu bekommen, entschied ich mich dann dafür, mal lieber für diesen Zweck nach Mädels Ausschau zu halten. Leider war es an diesem Tag nicht allzu warm, von Badeanzügen oder weniger war also leider nicht allzu viel zu sehen. Die eine oder andere schräge Person erwischte ich trotzdem ganz gut, wie sich später herausstellte. Das letzte Bild vom Film wurde dann aber doch das klassischste. Es entstand am Morgen danach, als ich im Halbschlaf die Kamera in die Luft hielt, einen verzweifelten Anlauf nahm, ins Objektiv zu grinsen, und abdrückte.
*Deep down in Sound
Deep, deep down in Sound
Down in Sound, down in Sound
Deep, deep down in Sound
Aaah …*
Da uns weniger danach war, den Abend auf einer dieser überteuerten Parties fortzusetzen, endete alles schließlich in diversen Restaurants und Kneipen in Kreuzberg. Manche mögen das für Blasphemie halten, aber es hat sich auch in den folgenden Jahren hervorragend bewährt. Die eigentliche Love Parade ist nun mal die Love Parade selbst. Das groß, bunt und laut angekündigte Drumherum kann man machen, muss man aber nicht. Bis auf einige Ausnahmen (Boris Dlugosch im SO36), aber davon hört man ja meistens erst nachträglich.
Jedenfalls saß ich wieder bequem im House-Zug. Und mit dieser Stimmung bewegte ich mich dann einige Wochen später in Richtung London …