November

Eine Frau erlebt die Öffnung der innerdeutschen Grenze im Krankenhaus

Der Arzt kam diesmal ohne Mundschutz. “Ansteckend sind Sie nicht”, sagte er.

Aber davon fühlte ich mich auch nicht besser. Ich wußte, daß ich schwer krank war, wahrscheinlich schwerer, als ich überhaupt wissen wollte. Abgesehen von meiner Schwäche und den diffusen körperlichen Beschwerden gingen merkwürdige Dinge in mir vor. Vertraute Worte fielen mir entweder nicht mehr ein, oder ich konnte keine Verbindung zu ihrer Bedeutung herstellen. Die eigene Telefonnummer war mir entfallen. Wollte ich das Fieberthermometer ablesen, mußte ich lange grübeln. 83? Oder 38? Und was bedeutete das?

Das Telefon klingelte. Axel kündigte seinen täglichen Besuch an: “Ich bringe jemand mit – Überraschung!” Mir war weder nach Überraschungs- noch sonstigem Besuch, von Axel abgesehen.

Kurz darauf standen sie vor meinem Bett, legten einen riesigen Strauß Chrysanthemen ab. Sabine und Robert. Das verstand ich nicht. Sie konnten doch nicht so einfach raus, unsere Freunde aus der DDR - die Mauer, die Grenze, die Formalitäten?

Im Urlaub hatten wir sie vor Jahren kennengelernt, in Ungarn, beliebter Treffpunkt für Deutsche aus West und Ost. Wiedergesehen hatten wir sie seither nur bei Besuchen in ihrem eigenen Land, das wir aus dem Westen nur nach mannigfaltigen Anträgen und ebenso langwierigen wie schikanösen Kontrollen an der Grenze bereisen durften. Strengen Blickes, bei dem wir uns sofort schuldig fühlten, wurden zunächst unsere Pässe, dann wir (“Die Brille fehlt, setzen Sie die bitte auf!”) und gelegentlich auch unser Auto nebst Inhalt ins Auge gefaßt. Unberechenbar die Reaktionen: Als einmal der gestrenge Uniformierte meinen Strickstrumpf ins Visier nahm, mit dem ich mir die Wartezeit vertrieb, schwante mir Böses (sicher verboten!), aber dann beschied er mich mit der jovialen Feststellung: “Na, immer fleißig, wa!” und winkte uns weiter. Die Stricknadeln knirschten unter meinen feuchten Händen. Noch mal davongekommen.

Sabine und Robert strahlten mich erwartungsvoll an. Und allmählich stiegen Bilder in mir auf wie Bläschen vom Boden des Kochtopfs; Erinnerungen an die Ereignisse der letzten Wochen, die ich noch zu Hause verbracht hatte. Fernsehbilder: Die durchlässig gewordene ungarische Grenze, Schlangen von Menschen, die ihren Urlaub am Balaton zum Ausgangspunkt nahmen für ihren Aufbruch ins Gelobte Land, in Shorts und T-Shirts und mit leichtem Gepäck. Die Botschaft in Prag, immer wieder die gleichen Bilder: Ein Mann, der versucht, über den Zaun zu klettern, von Polizisten festgehalten wird, sich losreißt, es doch noch schafft und auf der anderen Seite von jubelnden Menschen aufgefangen wird. Menschen, die auf dem Botschaftsgelände campieren. Schließlich die erlösenden Worte von Genscher, der ihnen “die Freiheit” verkündet. Ohrenbetäubender Jubel. Auch diese Szene immer wieder, in allen Nachrichtensendungen, bis sich der Klang der Worte in meinem Kopf wiederholte wie ein Werbeslogan, den man nicht mehr los wird. Aber ich, am Küchentisch, wartete förmlich darauf, diese Szene wiederzusehen, die erlösenden Worte wieder zu hören, Rührung schnürte mir die Kehle zu, wie auch nicht. Und dann Bilder von Bahnsteigen voller Menschen mit Blumen und Sektflaschen, die die Ankommenden in Empfang nehmen. Müde, glückliche Gesichter, Tränen, Euphorie, Mikrofone, Interviews. Wildfremde schlossen Wildfremde in die Arme wie lang verloren geglaubte Töchter und Söhne, Brüder und Schwestern. Niemand blieb unberührt und ungerührt, und ich vergaß in diesen Augenblicken, daß ich mich von Tag zu Tag elender fühlte.

Sabine und Robert saßen auf meiner Bettkante und freuten sich über meine verwirrte Miene. Überhaupt waren sie sehr aufgekratzt. Denn gestern nun die Folge, die Konsequenz, die Krönung all dieser Ereignisse: Die Mauer war gefallen, die Grenze offen seit gestern abend, als die Bedeutung von Schabowskis beiläufigen Worten den Menschen in der DDR ins Bewußtsein gedrungen war. Auch Robert und Sabine. Gleich heute morgen hatten sie sich in den Trabbi gesetzt und waren ins Land ihrer Träume gefahren, das ihnen zwar aus dem Westfernsehen und von ihren zahlreichen West-Bekannten her bestens vertraut war – aber was ist das gegen die lockende, bunte Realität! Heute vormittag hatten sie bei Axel vor der Tür gestanden, Überraschung, große Freude. “Alles so sauber bei Euch, und so gute Luft”, sagten sie.

Nach den ersten, sich überschlagenden Erzählungen an meinem Bett schleppte sich das Gespräch dahin. Meine langsamen Reaktionen paßten nicht so recht zu ihrem Überschwang. “Das wird schon wieder”, sagten sie schließlich. “Wir wollen dich nicht länger anstrengen. Und in Zukunft werden wir uns ja häufiger sehen…”

Sie brachen auf zur Stadtbesichtigung, und ich lehnte mich zurück in die Kissen.

In wenigen Tagen würde ich ins Koma abgleiten. In wenigen Wochen würde ich in Berlin sein, wo mein Leben im letzten Moment gerettet werden würde durch eine neue Leber. Axel würde mich dort besuchen können, ganz ohne Grenzformalitäten. Silvester 89/90 würde er unterm Brandenburger Tor feiern können, nachdem er mich im Krankenhaus besucht hatte, wo ich gerade aus langer Bewußtlosigkeit zu mir kam. Und dann würde es nicht mehr sehr lange dauern, bis die Euphorie von 1989 der Ernüchterung der 90er Jahre weichen würde, und aus den glücklichen Menschen dieses Herbstes würden Besserwessis und dumme Ossis werden.

Aber noch wußte ich nichts von all dem.

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