Er hörte es in den Abend-Nachrichten.
In der westfälischen Stadt Rheine war am Nachmittag eine Bombe explodiert. Ein Blindgänger aus dem zweiten Weltkrieg. Ein schreckliches Ereignis, denn ein Bauarbeiter war bei diesem Unglück um sein Leben gekommen. Es war ein Toter zu viel.
Was war geschehen?
In der Stadt wurde ein neues Geschäftszentrum geplant. Direkt gegenüber vom Bahnhof. Die Vorarbeiten für dieses Objekt waren mit den Ausschachtungsarbeiten und der Trümmerräumung in vollem Gang. Einige Häuser des engeren Stadtkerns mussten diesen Planungen weichen. Es waren alte Häuser und auch ehemals bebaute Bereiche, die nach den Kriegsschäden unbedingt einer Erneuerung bedurften.
Bei diesem Wiederaufbau passierte es. Ein Baggerfahrer traf auf die im Bauschutt steckende Bombe. Sie war dort vor über 3o Jahren abgeworfen worden, um den Verkehrsknotenpunkt der Bahnanlagen zu treffen. Sie war, nicht detoniert, als Blindgänger jahrzehntelang unentdeckt geblieben. Der Sprengkörper hatte einen Säurezünder, der durch die Berührung aktiviert wurde und im gleichen Moment explodierte.
Als der Mann abends diese Meldung hörte, spürte er plötzlich ein beklemmendes Gefühl. Unheilvolle Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Er dachte an den toten Menschen, der so sinnlos hinweggerafft wurde, der sein Leben verlor, während er fleißig und friedlich seiner Arbeit nachging.
In dieser Nacht schlief der Mann sehr unruhig. Am Morgen wurde er nach der Zeitungslektüre erneut an das schreckliche Ereignis in Rheine erinnert.
Er konnte sich einfach nicht auf den Tag konzentrieren. Er spürte sein Gewissen. Es war da etwas, das ihn ermahnte, das ihn wieder einmal an den Krieg erinnerte.
Wusste er doch ebenfalls von einer nicht detonierten Bombe. Damals, in den Märztagen 1945, kurz vor dem Ende des grausamen Krieges hatte er es erlebt. Er kannte sogar die genaue Stelle an der sie möglicherweise heute noch liegen würde. Zwar waren die äußeren Umstände dort völlig anders. Nicht in einer eng bebauten Stadt lag dieser Sprengkörper, sondern im freien Feld eines bäuerlichen Anwesens. Es konnte nicht angenommen werden, dass ein Bagger sie berührte. Doch wer wusste schon, ob nicht der Bauer mit seinem Pflug jahrzehntelang über sie hinweggegangen war?
Oder hatte sich dort nach so vielen Jahren vielleicht alles verändert? Waren dort gar keine Felder und Wiesen mehr? Fragen, die er sich plötzlich stellte.
In den vielen Jahren hatte er sie vergessen, diese Bombe. Er war sich der Tatsache nicht mehr bewusst gewesen. Er hatte sie nicht mehr für besonders wichtig gehalten. Es wurde sozusagen darüber hinweggelebt. Schließlich waren Abertausende Bomben gefallen. Es war vorbei, der Krieg lag glücklicherweise lange hinter den Menschen.
Und in diese Gedanken mischte sich für ihn die Frage: War der Krieg eigentlich für alle Menschen vorbei?
Der Mann erkannte, dass es zumindest gestern einen Menschen gegeben hatte, für den immer noch Krieg war - und der diesen (Nach)krieg nicht überlebt hatte.
Er spürte das Gewissen. Es klopfte an! Plötzlich drängte sich die Frage in seinen Kopf: »Wenn es nur einen gegeben hat, der auch nur eine vage Ahnung von dieser Bombe in Rheine besaß, was würde in diesem Menschen vorgehen? Was müsste in ihm vorgehen!«
Er dachte plötzlich nicht mehr länger darüber nach, griff zum Telefon, wählte kurzerhand den Anschluss des Bombenräumkommandos Münster und ließ sich mit dem Leiter verbinden. Nach kurzer Unterrichtung verabredete man sich und traf sich zwei Tage später am Bahnhof Raestrup-Everswinkel zwischen Telgte und Warendorf.
Dort, wo die Bundesstraße 64 und eine Bahnlinie so einträchtig unmittelbar nebeneinander verlaufen, dort war auch gegen Ende des Krieges ein reger LKW- und Bahnverkehr am Tage und bei Nacht zur Versorgung der Menschen unterwegs gewesen.
Um diesen Verkehr gegen die fast täglichen Jagdbomberangriffe der US-Airforce zu schützen, hatte man so genannte Straßenjagdzüge als Flugabwehr beiderseits der Verkehrsader eingerichtet. In kurzen Abständen wurden diese von der einen in eine neue Stellung verlegt. Letzteres deshalb, weil die amerikanischen Piloten immer sehr schnell heraus hatten, wo sie sich bei ihren Tiefangriffen auf bewegliche Ziele in besondere Gefahr begaben.
Die Gedanken des Mannes gingen zurück zum 22. März 1945. Er hatte jenen Tag immer als seinen zweiten Geburtstag gesehen. Denn an diesem sonnigen Frühlingstag wurde besagte Geschütz-Stellung in einen entscheidenden Luftangriff verwickelt und von zwei Lightning-Bombern mit Bordwaffen und Raketen-Splitterbomben attackiert. Der Umstand, dass dies gegen Mittag geschah, und er sich freiwillig gemeldet hatte, um im naheliegenden Bauernhof für die Versorgung seiner Kameraden Kartoffeln zu schälen, rettete ihm das Leben. Sein Kamerad, der ihn an der Kanone vertreten musste, kam bei diesem Angriff um.
Das war damals, als Krieg war und seine grausamen Gesetze herrschten. Aber was war das gegen heute, was war das gegen die Bombe von Rheine, die Bombe im tiefsten Frieden?
Heute traf man sich also zum verabredeten Zeitpunkt in Raestrup und ging zu Fuß am Bauernhof vorbei in die Felder, in denen damals die Geschütz-Stellung eingebaut war. Nach einer kurzen Orientierung konnte der Mann mit großer Sicherheit aus der Richtung des Bauernhofes kommend die Stelle ausmachen, um die es sich heute handeln musste.
Natürlich wollten die beiden Fachleute wissen, weshalb der Mann so genau von der Lage der Bombe überzeugt war. Das war einfach zu erklären. Die Jagdbomber trugen unter den Tragflächen Raketen-Splitter-Bomben, die, wegen des Gleichgewichtes, nur paarweise abgeschossen werden konnten. Zwei dieser Bomben gingen kurz vor einem Geschütz im Ackerland nieder, aber nur ein Detonationstrichter wurde entdeckt. Die zweite Bombe explodierte nicht.
Inzwischen war man an besagter Stelle angekommen. Korn stand kurz vor der Ernte auf dem Acker. Und noch etwas hatte die nähere Umgebung völlig verändert. Drei Bungalows waren entstanden. Nur wenige Meter von der vermuteten Stelle entfernt. Die beiden Männer vom Kampfmittelbeseitigungsdienst vermaßen die Stelle und brachten einige Kennzeichen an. Sie wollten, sofort nach der Kornernte, die Bombe suchen und räumen.
Der Mann war letztlich doch froh, die Verantwortung los zu sein und sein Wissen gemeldet zu haben. Bevor man zum Auto zurückging um sich zu verabschieden, bekamen die drei Männer auf dem Feldrain noch etwas geboten, was sie zu kopfschüttelndem Schmunzeln verführte.
Vor dem mittleren Bungalow machte sich seit geraumer Zeit die Frau des Hauses bemerkbar. Sie versuchte zwar peinlich ihre Neugierde zu verstecken, fragte dann aber doch beiläufig:
»Kann ich ihnen helfen?«
Die Männer bedankten sich, sie wollten eigentlich keine Antwort geben, um die Menschen hier nicht zu beunruhigen. Etwas später trat die Frau abermals aus dem Haus, um eine Matte auszuklopfen. Und natürlich konnte sie eine weitere Frage nicht unterdrücken:
»Ist etwas Besonderes?«
Wieder ein höfliches aber bestimmtes: »Nein, danke sehr«. Schließlich, als die Herren sich gerade endgültig zurückziehen wollten, brach es voll aus ihr heraus:
»Aber was machen sie denn hier?«
Da war es den Männern genug, und sie entschlossen sich, der Frau die Wahrheit zu sagen:
»Hier liegt eine Bombe aus dem zweiten Weltkrieg!«
»Wo liegt die Bombe?«
»Nur wenige Meter von ihrem Haus entfernt.«
»Ach so, nur eine Bombe. Und ich dachte schon sie wollen womöglich eine neue Straße vermessen!«
Konsterniert blickten sich die Männer an. Da hatten sie befürchtet, die Frau mit der Hiobsbotschaft zu erschrecken und in Unruhe zu bringen, wenn man ihr die Wahrheit sagte. Immerhin wäre es sehr naheliegend gewesen, wenn sie nun in Sorge gewesen wäre um ihre Familie, um das schöne neue Haus und um vieles mehr. Statt dessen war sie erleichtert.
Ihre Sorgen waren verflogen, der Verdacht, man könnte hier eine neue Straße planen, hatte sich erledigt. Was mag ihr vorher alles durch den Kopf gegangen sein? Eine neue Straße, neue Häuser, neue Menschen, Fremde, vielleicht sogar welche, die nicht zu ihnen passen oder die wer weiß wo herkamen.
Nun war es gut, sie war der Ängste ledig. Denn neben ihrem Haus lag ja nur eine Bombe!