So wahr ich Sergej Iljitsch Eisenstein heiße

Über den gescheiterten Versuch, die DKP-Jugend zu unterwandern.

Als Mick gegen Ende seiner Lehrzeit einsah, dass das Handwerk - zumindest für ihn - keinen goldenen Boden hatte, meldete er sich auf dem Abendgymnasium an. In seiner Klasse waren etwa 20 junge Leute, im Durchschnitt Mitte zwanzig. Ein gutes Drittel der Klasse war wie Mick eindeutig links, ein weiteres Drittel konnte man der »bürgerlichen Mitte« zurechnen, und der Rest war unpolitisch, nur am eigenen Fortkommen interessiert.

Einige der Lehrer kannte Mick noch von seiner alten Penne, aber trotzdem war alles ganz anders als früher. Der Lateinunterricht beim alten Olsen, den er schon in der Quarta gehabt hatte, wurde zum Aha-Erlebnis, denn er schrieb nun Einsen und Zweien, während er früher immer zwischen vier und fünf gependelt hatte. Am interessantesten aber waren Deutsch und Geschichte. Der Lehrer war sehr engagiert, offensichtlich machte ihm der Unterricht mit den jungen Erwachsenen großen Spaß. Jedem Thema, das er im Unterricht anschnitt, war auch eine gesellschaftspolitische Dimension abzugewinnen, und so gab es immer Stoff für heiße Diskussionen. Die Linken in der Klasse waren - von wenigen Ausnahmen abgesehen - die eloquentesten und auch streitlustigsten. Entsprechend groß war auch der Raum, den sie im Unterricht für sich beanspruchten. Und der Lehrer schien erfreut, dass es in seinem Unterricht so lebhaft zuging. Er bezog zwar selbst keine Position, aber man konnte mit Recht vermuten, dass auch sein Herz im Grunde links schlug.

Mit einem seiner Mitschüler, Werner, hatte sich Mick sehr bald angefreundet. Nach dem Unterricht gingen sie immer zusammen ins Wirtshaus Wuppke in der Holtenauer Straße, um ein paar Biere zu trinken, weiter zu diskutieren oder herumzublödeln. Werner war ein richtiger Witzbold, dabei aber blitzgescheit und sehr belesen, ganz nach Micks Geschmack. »Von den todernsten Weltverbesserern gibt es ohnehin mehr als genug!« sagte er sich.

Werner hatte die komplette MEW (Marx-Engels-Werke) zu Hause im Bücherschrank stehen, und er war ein leidenschaftlicher Verehrer von Ernst Bloch. Sein Vater war Fabrikant. »Irgendetwas mit Heizungsbau,« erklärte Werner. »No problem,« erwiderte Mick - immer ziemlich klassenbewusst, »das war Engels auch!«

Eines Abends erzählte Werner im kleinen Kreise beim Bier, dass die DKP dabei war, eine neue Jugendorganisation aufzubauen, und schlug vor, da mal aktiv zu werden. »Die Altkommunisten bringen doch in Kiel niemals mehr als eine Handvoll junger Leute auf die Beine, da müsste es doch ein Leichtes sein, den Laden umzufunktionieren, wenn wir alle Linken zusammentrommeln, die wir kennen!« Also besuchte Mick ein paar Tage darauf seinen alten Kumpel Joe, um ihn für den Coup zu gewinnen. Denn in einer sozialistischen Jugendorganisation durfte ein richtiger, echter Arbeiter nicht fehlen. Und Joe war Arbeiter. Einer vom Bau, der einzige Arbeiter, den Mick näher kannte. »Na klar mach’ ich mit. Die sollen mal sehen, wo der Hammer hängt,« antwortete Joe, als er ihm von dem Plan erzählte.

Eine Woche später kreuzte beim ersten Treffen der neuen SDAJ-Ortsgruppe in dem Vereinslokal eine Truppe von ungefähr 20 größtenteils Langhaarigen auf - Trotzkisten, Anarchisten, Maoisten, und was es sonst noch so alles gab in dem linken Zoo der Unistadt. An Ort und Stelle füllten alle brav die Anmeldeformulare aus und erklärten ihren Beitritt zur Sozialistischen Arbeiter Jugend.

Der harte Kern des Ortsvereins bestand aus einigen junge Leuten zwischen 16 und 20, zumeist Söhne und Töchter von DKP-Mitgliedern, gescheitelt und geschniegelt, brav und fleißig - kurzum kreuzbürgerlich - und, wie nicht anders zu erwarten, stramm auf DDR-Kurs.

Die waren natürlich ein gefundenes Fressen für den wilden Haufen von Radikalinskis, der sich die feindliche Übernahme der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend in den Kopf gesetzt hatte.

Zuerst hatten die Jung-Revisionisten etwas verwirrt auf den Flohzirkus geschaut, der ihnen da ins Haus geschneit war, aber dann freuten sie sich doch über die unerwartete Massenbasis.

Diese Freude sollte ihnen aber gleich wieder vergehen. Als über die Verteilung der Ämter abgestimmt wurde, stimmte der ganze Chaotenverein geschlossen wie ein Mann - sonst völlig unüblich in ihren Kreisen - für Pete M., einen stadtbekannten Anarchisten, so dass er mit einer satten Mehrheit zum 1. Vorsitzenden gewählt wurde. »Damit sie gleich wissen, mit wem sie es zu tun haben!« grummelte Mick zu seinem Kumpel Joe hinüber. Und Werner riet:

»Von allem, was nach Arbeit aussieht, lassen wir aber besser die Finger. Den Organisationskram sollen die machen!« Also wurden die Posten des ersten Sekretärs und des Kassenwartes gnädig den Altkommunisten überlassen.

Als dann die politischen Inhalte zur Sprache kamen, ging es richtig zur Sache. Pete zog sofort blank und brachte den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei auf den Tisch des Hauses:

»Das ist ja wohl das Allerschärfste, was sich die Sowjetunion und ihre Verbündeten da geleistet haben! Kaum etabliert sich in der CSSR eine neue demokratisch-sozialistische Regierung, die von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt und sogar bejubelt wird, da scheißen sich die alten Schnarchsäcke in der KPD-SU die Hosen voll, schicken - weil sowas ja Schule machen könnte - ihre Panzer nach Prag und knüppeln eine junge, revolutionäre Bewegung mit militärischer Gewalt nieder. Und machen so alle Hoffnung zunichte, dass wenigstens in einem Land des Ostblocks ein Sozialismus entstehen könnte, der vom Volk getragen wird. Und die DDR, die doch immer vollmundig von sich behauptet, das Mutterland des deutschen Sozialismus zu sein, macht natürlich brav mit. Wir fordern eine Resolution unseres Ortsverbandes, in der wir den völkerrechtswidrigen Übergriff auf die CSSR auf das Schärfste verurteilen und die Invasionstruppen auffordern, unverzüglich das Land zu verlassen!«

Nun bekamen die DKP-Buben richtige Bauchschmerzen, man konnte es ihren säuerlichen Mienen ansehen. Dass jemand ihre heilige DDR angriff, und ausgerechnet auch noch der frischgebackene Genosse Vorsitzende, das ging nun aber wirklich zu weit! Ihr Weltbild geriet ins Schlingern. Sie drehten und wendeten sich, sie kauten alle Argumente wieder, die sie von ihren Eltern aufgeschnappt oder sich in der »WAHRHEIT« angelesen hatten, und versuchten den Einmarsch zu rechtfertigen. Aber außer zaghaft zustimmendem Kopfnicken von den anderen jungen Altkommunisten ernteten sie nur höhnisches Gelächter und böse Zwischenrufe.

»Haben sie euch ins Gehirn geschissen, oder wart ihr schon immer so bescheuert?« wollte Joe wissen. Dann wurde abgestimmt, und wieder setzte sich, dank der komfortablen Mehrheit, die Sponti-Fraktion durch. Die Resolution wurde verabschiedet.

»Wir sollten uns aber keine großen Illusionen machen,« gab Werner zu bedenken. »Die Signalwirkung der Resolution wird so ungefähr gleich Null sein, denn auf Bundesebene haben die Linientreuen das Sagen. Die werden den Teufel tun und unsere Resolution in ihrer Zeitung abdrucken - da sei Genosse Erich vor!«

Schon bei der nächsten Versammlung begann die Sponti-Front zu bröckeln: nur noch die Hälfte des bunten Haufens hatte es erstrebenswert gefunden, einen ganzen Nachmittag mit den Milchbärten herum zu händeln. Und nach vier Wochen waren die Jung-Revisionisten schon fast wieder unter sich. Auch Mick und Joe, die schon auf dem Wege zu der anstehenden Versammlung waren, drehten in Richtung Fußgängerzone ab, als sie die Innenstadt erreichten.

»Ist auf Dauer ja auch hochgradig langweilig, sich dieses Gesülze anzuhören«, meinte Joe, »komm lass uns lieber zu KIHR-GOEBEL gehen, Platten hören. Es gibt ’ne neue Scheibe von ’ner Band namens AC/DC. Echt starker Tobak, musst du unbedingt hören!«

Die Revisionisten waren sicher niemandem böse deswegen. Nicht einmal die ausstehenden Mitgliedsbeiträge haben sie eingefordert. Nur Pete versuchte noch eine Zeit lang seines Amtes zu walten und gab schließlich erleichtert auf.

Ein paar Wochen später hörte Mick bei einem Besuch in Frankfurt, dass auf einem SDAJ-Kongress in Mannheim ein paar junge, aufmüpfige Leute Prügel von den Betonköpfen bezogen hatten.

»Na, das hätten sie mal mit uns machen sollen«, kommentierte Joe die Nachricht und reckte seine einsfünfundneunzig zu voller Größe auf. »Da hätt’s aber ‘was auf die Mütze gegeben, so wahr ich Sergej Iljitsch Eisenstein heiße!«

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