Mai 68 in Paris

Daß Mai achtundsechzig sich nähert, merke ich nicht. Ich wohne weit weg vom Studentenviertel, lese nie Zeitung, was in Deutschland vor sich geht, dringt nicht bis zu mir und als es ausbricht, ist es für mich ein persönliches Abenteuer. Als die Studentenunruhen anfangen, spitze ich natürlich die Ohren, verfolge am Radio was passiert. Und ich fange an, Zeitung zu lesen, doch bald gibt es die nicht mehr. Die Studenten bringen die Gewerkschaften dazu, sich ihrer Bewegung anzuschließen, was sie schließlich aus ganz anderen Motiven tun. So funktioniert nach und nach gar nichts mehr, es gibt keine Verkehrsmittel, keine Post, der Abfall wird nicht abgeholt, den Geschäften fangen die Waren an auszugehen. Paris ist ein Kindergarten geworden, wo man Revolution spielt. Ich komme morgens auf die Straße, da stehen am Rand des Bürgersteigs die vollen Abfalltonnen, jeder stellt, legt seinen Beutel einfach dazu, obendrauf. Man sieht Ratten hin und her huschen. Die Luft ist geschwängert vom Verwesungsgeruch tierischer und pflanzlicher Substanzen. Durch die Abfallhügel wandern die Menschen. Die meisten haben es aufgegeben, zur Arbeit zu fahren. Es hat keinen Zweck, sich in die Blechschlangen einzureihen, weil sie sich kaum bewegen. Und im Büro, an der Arbeitsstelle, da gibt es nichts zu tun. Niemand kann sich bewegen. Paris ist ein Festival des Chaos, ein Fest der derben Aussprüche. Quel bordell. Une pagaille. „Chienlit“, sagt de Gaulle, holt ein altes Wort aus der Versenkung. Jeder wiederholt und lacht in sich hinein. So ein Spaß. Ein fröhlicher Ausnahmezustand. Alle sozialen Taue sind gerissen, die da oben haben nichts mehr zu sagen, schließlich sind wir die Bürger, wir haben sie dahin gehievt, nun müssen sie uns mal zuhören, wir haben was zu sagen, der kleine Mann der Straße hat eine Unmenge zu sagen, und der junge Student weiß genau, wie die menschliche Gesellschaft zu sein hat, weniger Strukturen, mehr Selbstbestimmung. In den Straßen läuft ein poetischer Surrealismus um, an jeder Straßenecke stellen sich vollkommen Unbekannte zusammen und diskutieren. Jeder weiß was passiert und noch mehr, die privaten Radiosender sind mitten in der Aktion, die staatlichen außer Dienst. Da werden Bäume gefällt, Büros geplündert, Autos überkant gerollt, hohe Barrikaden gebaut. Das kennt man, so steht das in den Geschichtsbüchern. Aus den Chausseen bricht man die Basaltsteine, häuft sie auf die Barrikaden, schickt sie der vorrückenden Polizeimacht entgegen. Alle sind in einem Freiheitsrausch, wo alles erlaubt ist, die Verantwortung ist bei der Revolution. Die Barrikaden schließen die Straßen, doch öffnen einen neuen Weg.

Wie immer muß ich dabei sein, wissen, wie das ist, so eine Revolution. Ich durchquere Paris zu Fuß bis zur rue de Tournon und bleibe einige Tage bei Penelope, die dort eine kleine Wohnung hat. Nicht weit weg räkeln sich die Bürger auf den roten Samtsitzen des Odéon, jeder darf das Wort ergreifen. Ich laufe in der Sorbonne herum, wo hektisch diskutiert wird, lese die Losungen, die die Wände bedecken. Ausgebrannte Autowracks stehen am Straßenrand, über die geplünderte Chaussee rücken die CRS mit vorgehaltenen Schilden an, Tränengasbomben zischen vorbei, vernebeln die Luft, machen sie ungenießbar, ich laufe mit dem Taschentuch vor dem Gesicht aus dem Kampfgebiet. Dahinter haben die neuen Propheten sich aufgerichtet, die Eiferer und Schwärmer, die Verfechter der freien Liebe und des zivilen Ungehorsams, die Kämpfer für die klassenlose Gesellschaft, die Rechte der Andersartigen, die Zerstörer aller sozialen Barrieren, die Verkünder eines neuen Esperanto, jeder, der sich im Besitz der Wahrheit glaubt, ist aus seinem Loch gekrochen und tut sich kund.

Paris ist eine Stadt, wo der Traum ein Alptraum wird, vor dem Diskutieren kommt das Leben zu kurz, die Demokratie geht den Bach runter: wie, wenn jeder recht hat? Ist realistisch sein, das Unmögliche wollen?

Als Mitterrand und Mendès France anfangen, sich für eine provisorische Ersatzregierung zur Verfügung zu stellen, als ein Teil der Studentenschaft Feuer in der Börse auf dem rechten Ufer der Seine legt, als im Odéon alle Klos verstopft sind, und niemand aufhören will, im Theaterraum kettenzurauchen und es auch dort brennt, als es kein Benzin mehr gibt und Leute anfangen, ihre Autos einfach stehen zu lassen, hält die Stadt den Atem an. Was passiert nun? Die Armee steht vor Paris, de Gaulle ist verschwunden, niemand weiß wohin.

Jemand hat einen Vetter, der weiß, wo de Gaulle ist.

Eines Tages ruft man mich an, wir müssen hier verschwinden, es gibt einen Bürgerkrieg, de Gaulle ist bei Massu in Baden-Baden, pack deine Sachen, wir fahren sofort in die Normandie.

Als wir losfahren, ist schon alles vorbei. De Gaulle hat seine Ansprache ans Volk gehalten, dieses hat sich spontan auf dem place de la Concorde versammelt und ist dabei Hand in Hand, Arm in Arm die Champs Elysées hochzukriechen. Als wir von Montmartre runterfahren, kommen wir plötzlich nicht weiter. Wir steigen aus und laufen zu den Champs Elysées, schauen auf die dicke Schlange der der Revolution müden Bürger, die die breite Straße bis nach oben hin verstopft. De Gaulle hatte noch einmal die Franzosen verstanden. Wir machen einen Umweg, überall sind Autos, die hysterisch hupen, wir fahren trotzdem in die Normandie.

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