*Are you experienced?
Have you ever been experienced?
Well, I have
(Jimi Hendrix)*
Abends um elf erreichen wir endlich Joe’s Wohnung.
Dirks Freundin Karin ist auch mitgekommen, aber sie ist müde, und legt sich gleich ab. Außerdem ist ihr unser Vorhaben hochgradig suspekt.
Nach 5 Minuten:
“Merkst du was?”
“Nö!”
Eine halbe Stunde später:
“Merkst du immer noch nichts?”
“Nein, nichts.”
So langsam schleicht sich der Verdacht ein, Lindas Bekannter könnte uns abgelinkt haben.
Dann, nach fast einer Stunde - ich habe die ganze Zeit in mich hineingespürt, um auch die kleinste Veränderung in mir wahrzunehmen - bemerke ich, daß die Kerze vor mir auf dem Tisch eine Aura bekommen hat. Nichts Dramatisches, aber auch mein Körpergefühl verändert sich: die Grenzen meines Körpers werden überdeutlich spürbar, und verschwimmen dann mit einer feinen, hochfrequenten Vibration in der Luft. Jede Form der Wahrnehmung wird um Zehnerpotenzen intensiver, klarer, plastischer. Alles ist fremd und neu, aber voller Gewicht und Bedeutung, vibriert und kommuniziert mit seiner Umgebung. Es fühlt sich gut an, ich fühle mich gut an! Ich stehe auf. Erlebe meinen Körper wie ein Fahrzeug, das ich gerade einen Augenblick zuvor zum ersten Mal bestiegen habe.
Ich trete an den Spiegel an der Wand zwischen den beiden großen Atelierfenstern. Schaue hinein: die Umrisse meines Spiegelbildes krisseln, wie ein schlechtes Fernsehbild.
Dahinter - fremd und bedrohlich - endloser Raum. So müssen sich die Menschen des Mittelalters den Rand der Erdscheibe vorgestellt haben: Dahinter der Abgrund vor dir, zu deinen Füßen unendliche Leere. Ein Schritt – und du stürzt ins Bodenlose, ins Nichts.
Ängstlich zurückschreckend fixiere ich wieder mein Gesicht im Spiegel: Ich erkenne mich nicht. Genausogut könnte dort jetzt ein Fremder stehen! Die Gesichtszüge kommen mir bekannt vor, aber die Konturen pulsieren und auf der Stirn und den Wangen haben sich farbige Muster gebildet, die sich in- und umeinander drehen und durcheinander wabern.
Mir fällt Jean Cocteaus “Orphee” ein, wie er, auf dem Weg ins Totenreich, durch einen Spiegel geht: In dem Augenblick, wo seine Fingerspitzen das Glas berühren, weicht die Oberfläche zurück, wassergleich kleine Wellen schlagend, um den ganzen Jean Marais hindurchzulassen. Es würde mich kein bißchen wundern, wenn der Spiegel vor mir genauso reagierte!
Aber ich wage nicht, ihn zu berühren. Ins Totenreich will ich nicht hinabsteigen. Um keinen Preis der Welt!
Ich setze mich wieder, und versuche, Dirk und Joachim mitzuteilen, wie mir geschieht.
Auf eine ungekannt-intensive Weise bin ich erfüllt von meinem eigenen Da-Sein, der Präsenz meiner Freunde und der aller Dinge um mich herum.
Ein Gefühl tiefen Friedens, und totaler Kongruenz mit mir selbst hat von mir Besitz ergriffen. Ich höre mich sagen: “Ihr seid schön blöd, wenn ihr jetzt nicht auch eure Trips einwerft!”
Die beiden sind jetzt sehr neugierig geworden, und sie haben auch nicht mehr den übertriebenen Respekt vor der psychischen Sprengkraft des LSD, als sie sehen, daß es mir blendend geht. Also schlucken ebenfalls ihre Kapseln.
Erneutes Warten.
Als die Wirkung bei ihnen einsetzt, weiß ich es sofort! Wir sind nun angeschlossen an das gleiche Sensorium, verstehen uns fast ohne Worte. Der Raum scheint die ganze Welt zu einzuschließen. Eine stille Heiterkeit legt sich über alles.
Unbestreitbar gibt es sie, die unermeßlichen, furchteinflössenden Abgründe der Seele, und sie sind schnell erreicht. Ich habe ja gerade erst kurz hineingeschaut.
Aber für dieses Mal beschließen wir - in wortlosem Einverständnis - sie zu meiden.
Irgendwann, nach Stunden, schaue ich zu Karin hinüber, die immer noch - 2 Meter entfernt - auf Joes Koje schläft. Ihr Atem webt zarte Schleier in die Luft.
Ich sehe und spüre Kraftlinien, die zwischen unseren beiden Körpern durch den Raum pulsieren, das elementare Kraftfeld der sexuellen Anziehung. Sie jedoch scheint nichts zu bemerken, schläft weiter. Ist draußen. Woanders. Gehört nicht zu dem Universum, in das wir vor - wie lange ist das überhaupt her? - zum ersten Mal eingetreten sind.
Ich wende mich wieder meinen Freunden zu.
“Habt ihr schon gemerkt, daß Zeit eine pure Illusion ist?”
“Sicher“, antwortet Dirk, „ich glaube, das, was wir normalerweise als “Zeit” bezeichnen, ist nur ein Meer, in dem wir schweben und uns fortbewegen. Leben ist nichts als ein Schwimmen in der Vierten Dimension!”
Später beschliessen wir, Musik zu hören. Die Wahl fällt schwer, denn die Entscheidung scheint ungeheuer bedeutungsvoll. Ich plädiere für Charlie Parker.
Joe legt die alte 25er-Scheibe auf den Teller, die ersten Töne von “My old flame” lösen sich aus den Lautsprechern.
Das Piano kräuselt die Luft, wie eine leichte Brise die Oberfläche eines Sees. Dann schwingt sich Birds Altosax in den Raum, entschlossen, bestimmt, kraftvoll. Arabesken schreibend, die sich nicht zwischen Grün und Blau entscheiden können, dann im zweiten Teil des Chorus ins Rot-Spektrum hinüber-wechseln, und mit einem schnellen Schlenker abreißen, Platz machen für Howard Mc Ghees Trompete: spitz-zackig, aggressiv, blauweiß mit grellem Orange durchsetzt, dann abkühlend in ein Blaugrün. Im Hintergrund ein warmes Braun: Bass und Schlagzeug. Wir hören die Musik nicht nur, wir sehen sie auch, und spüren sie körperlich. Jede Zelle schwingt mit, willenlos sich dem Rhythmus und der Stimmung hingegebend.
Dann kommt ein eiliger Bop: “Scrapple from the Apple”. Mein Puls beschleunigt sich, der Atem wird kürzer.
“Laßt uns was anderes hören. Das ist echt too much!”
Joe legt John Coltrane auf. „A Love supreme".
Angekündigt durch einen Gongschlag, geht Tranes Tenorsax auf - wie die Morgesonne in den Tropen. Mc Coy Tyner’s Piano tupft verschiedenfarbige Flecken auf den Hintergrund, das Hi-Hat zischelt klapperschlangig, dann erklärt Jimmie Garrison’s Bass das Thema: ä lav sö prim, ä lav sö prim, ……
Wir sind in Afrika, auf einem Dorfplatz. Mitten in der endlosen Steppe beginnt ein uraltes magisches Ritual.
Elvin Jones „conga-t“ verhalten, treibt dann den Beat mit ein paar Beckenschlägen vorwärts. Dann gleitet das Tenorsax hinein in den Fluß und stößt sich kraftvoll vom Ufer ab.
Die schwarzen Männer vor uns am Feuer beginnen zu tanzen. Zuerst langsam stampfend, dann wild alle Glieder schüttelnd, schließlich sich in ekstatischen Zuckungen windend.
Die Zeremonie ist auf dem Höhepunkt.
Wir drei sind nur Zuschauer, die draussen, aus einem nahen Gebüsch heraus das Treiben fasziniert beobachten.
Schließlich drosseln die Trommler ihr Tempo, die Musik wird leiser. Das Tenor intoniert wieder das Thema. Die Männer fangen an zu singen mit dunklen, bauchigen Stimmen:
„A love supreme, a love supreme" ……….. Dann löst sich das Thema auf. Elvin swingt zärtlich über die Becken, virtous mit dem Tempo spielend, der Bass hält sich eine Weile an die erste Variation, probiert dann ein paar weitere aus. Dann setzt das Schlagzeug unerwartet aus. Noch ein zartes Solo, dann verstummt auch der Bass mit einem kurzen, leisen Tremolo…..
Nach einer halben Ewigkeit lasse ich mir von Joe ein Stück Papier und einen Bleistift geben. Fange an zu zeichnen.
Ein menschlicher Kopf entsteht vor mir auf dem Blatt. Ich weiß sofort: mein Kopf.
Die äußere Gesichtsmuskulatur ist ein Panzer aus Erz, wie der Helm des Perikles, aber mit psychedelischen Mustern verziert.
Später dann arbeiten sich skurrile Lebewesen durch die Poren des Papiers. Amöben?
Wie es scheint, blättere ich in der Mappe, in der Gott die Baupläne seiner Lebewesen aufbewahrt, kopiere das eine oder andere Modell.
Nach unzähligen Stunden geht draußen die Sonne auf. Mein Körper meldet sein Recht auf Schlaf an, die Nerven sind längst überreizt, die Sinne völlig überfordert.
Dirk kriecht zu Karin unter die Decke, Joe und ich legen uns auch irgendwo ab. Vor meinen geschlossenen Augen wabert ein Kaleidoskop, Farben, Muster, ständig in Bewegung, unaufhörlich mutierend. Jetzt weiß ich, woher die Psychedelic Artists ihre Inspirationen beziehen!
Am nächsten Tag wachen wir auf und fühlen uns wie Pioniere, die einen neuen Kontinent entdeckt haben. Wir gehören jetzt einem kleinen, auserwählten Zirkel an.
Wir sind Acid Heads - vermutlich die ersten in der Stadt!
“ARE YOU EXPERIENCED?”
“Yes, WE are!”
In der nächsten Zeit beobachten wir alle Leute ganz genau, wir halten Ausschau nach anderen Säureschluckern.
Aber bis jetzt scheinen wir die einzigen bei uns in der Gegend zu sein…….