Und morgen werde ich 21

Aus dem Tagebuch einer 20-jährigen

Steffi sitzt am Küchentisch, schnippelt Tomaten, Gurken, Zwiebeln für die Salate. Wischt sich eine Träne von der Wange. Lauscht ihrem Lieblingsschlager im Radio: Young love - first love. »Morgen bin ich volljährig«, denkt sie, »endlich 21. Dann kann mir keiner mehr was sagen, dann kann ich nach Hause kommen, wann ich will. Und was wird sich ändern? Mutti wird mir weiterhin jede Minute vorwerfen, die ich zu spät komme, was Vati denkt, weiß ich nicht. Nur schade, dass morgen Totensonntag ist. Da bringen sie nur ernste Musik im RIAS. Aber macht nichts, ich habe ja meine Platten. Elvis Presley, Bill Haley und so. Rock around the clock. Und tanzen werden wir, egal, was die Nachbarn denken.«

Sie schnippelt weiter an ihren Tomaten, Gurken, Zwiebeln, lauscht der Radiomusik, schneidet sich in den Daumen, hört eine Stimme: »Auf Präsident Kennedy ist geschossen worden, er liegt im Krankenhaus«, leckt das Blut ab, »wird schon nicht so schlimm sein«, schnippelt weiter, hört die Stimme wieder: »Präsident Kennedy ist eben seinen Verletzungen erlegen.« »Und morgen werde ich 21«, denkt sie. Steffi klebt ein Pflaster auf die Wunde, geht in ihr Zimmer, schlägt das Tagebuch auf, dreht die Kappe vom Füller und schreibt:

»Heute, am 22. 11. 63. ist John F. Kennedy Opfer eines Attentats geworden. Um 20.00 MEZ traf ihn ein Schuss in den Kopf, an dessen Folgen er kurz darauf starb. Seine Frau saß neben ihm. Im Grunde ist es doch so eine sachliche Meldung, aber sie wirft tausend Fragen auf. Es ist natürlich eine hochpolitische Angelegenheit, Kennedy galt als Vermittler zwischen Ost und West. Was wird jetzt? Wie wird Johnson jetzt handeln, der sofort zum Präsidenten vereidigt wurde. John F. Kennedy war als Politiker sehr beliebt in der ganzen Welt. Besonders bei uns in Berlin galt er soviel und war ungeheuer populär. Ich bin ein Berliner, hat er gesagt.«

Steffi schnuppert. Es riecht verbrannt. »Ach herrjeh, mein Braten«, durchfährt es sie, wirft ihren Füller hin, dass er die Tagebuchseite bekleckst, rennt in die Küche, öffnet die Klappe des Backofens. Verbrennt sich die Finger, schimpft. Begutachtet das Fleisch. »Na ja, kann man noch essen.« Sie dreht den Gashahn aus, nascht ein Stückchen Tomate. Pustet auf die verbrannten Finger, wandert wieder in ihr Zimmer. Schreibt weiter.

»Aber gerade in menschlicher Hinsicht ist der Tod Kennedys so erschütternd. Da wurde ein Mann aus einem blühenden Leben, mitten aus der Arbeit, auf dem Höhepunkt seines Lebens von einem Fanatiker, wahrscheinlich einem Rechtsradikalen, ermordet. Es ist eine Tragödie, die Trauer in jedem Herzen hervorrufen muss. Es ist schrecklich, dass es Menschen gibt, die so intolerant sind und, um zu ihrem Recht zu kommen, nicht vor einem Mord zurückschrecken.«

Steffis Mutter kommt in das Zimmer. Sie ist ganz blass. »Was mach’ ich nun?« fragt Steffi. »Du feierst«, sagt sie. »Es ist schließlich dein Geburtstag.« Steffi drückt ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. Schreibt weiter.

»Gerade gestern diskutierten wir im Büro über die Todesstrafe. Ich bekannte mich absolut dagegen, da ich der Meinung bin, niemand hat das Recht, über das Leben eines anderen zu bestimmen. Auch wenn der andere schon bald nicht mehr als Mensch bezeichnet werden kann. Niemand darf sich als Richter über Tod oder Leben eines anderen aufschwingen, niemand ist so unfehlbar. Aber in diesem Fall bin ich für eine sofortige Hinrichtung. Es ist nicht konsequent, aber ich bin so empört über diese Tat, sie kann nicht anders gesühnt werden. Alle Sender spielen Trauermusik. Aber wer wäre jetzt auch in der Lage, Schlagermusik zu hören.«

»Ich habe gar keine Lust, zu feiern. Werd’ allen absagen. Ach nee«, beschließt Steffi. »Ich erreiche die Leute ja sowieso nicht. Und was mach’ ich mit den vielen Salaten und dem Braten?« Schreibt weiter.

»Ja, was ist der Sinn des Lebens? Im Grunde ist alles so sinnlos. Da macht man sich Gedanken über so banale Dinge wie Frisur, Freundschaften usw.; es ist so schrecklich unwichtig. Wenn ich schon auf der Welt bin, dann will ich so halten: Ich möchte einmal sagen können: Ich habe gehört, was zu hören war, gesehen, was zu sehen war, und gefühlt, was zu fühlen war. Ich habe genug und bin zufrieden.«

Steffi steht auf, schaut aus dem Fenster. Es ist so ruhig draußen. Kaum Autos auf den Straßen, wenige Fußgänger.

»Bei uns in Berlin werden jetzt Kerzen in die Fenster gestellt. Ich war so erschüttert, dass ich unwillkürlich betete: ‘Der Herr sei seiner Seele gnädig.’ Es ist nicht der Glaube, der mich dazu trieb, sondern einfach der Gedanke einer Seele an die andere auf ihrer Fahrt ins Unbekannte. Aus dem Nichts kommend - in das Nichts vergehend.

Ja, und morgen werde ich 21.«

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