Du Oma, wer war Hitler?

Ein Mädchen wächst in den 50er Jahren bei den Großeltern auf.

Gut bürgerliches Neukölln, Hobrechtstraße, Seitenflügel, 2 Treppen. Dunkelbraun lackierte Holztreppen und gedrechselte, stets auf Hochglanz polierte Geländer. Die Frau des Hausmeisters verbrachte Stunden damit, jede einzelne Rundung blitzblank zu polieren. Alles musste zwanghaft glänzend und reinlich sein, geradeso als müsste fortwährend das Image von Fleiß und Sauberkeit zur Schau gestellt werden. Deutsche Tugenden, die einzigen, die uns geblieben waren?

Wir Kinder mussten uns stets leise durch den Hausflur schleichen, wenn uns der Portier nicht erwischen sollte. Er flößte uns Angst ein, regelrecht panische Angst. Er kannte kein Pardon und jeden, den er von uns Kindern erwischte, packte er am Kragen, kniff ihn, haute ihm eine Ohrfeige oder drosch gar mit einem Stock auf ihn ein. Bestenfalls hielt er eine Standpauke mit der Androhung, er würde uns noch kriegen und uns das Jackstück so vollhauen, dass wir es nie vergessen würden. Im Hausflur herrschte ein schnelles Laufen, ein lauteres Kichern und das, was man als Herumlungern bezeichnete, was bei den Alten die Wut auf Kinder und die verkommene Generation und bei uns sehr langsam und vorsichtig aufkeimenden Widerstand hervorrief. »Olle doofe Potsche« grölten wir frech von der Ferne, wenn wir die Frau des Hausmeisters sahen und uns in Sicherheit wähnten, doch irgendwann einmal mussten wir irgendwie an der Observationstür vorbei kommen, um nach Hause zu gelangen. Und somit wurde jeder Tag ein Kampf mit neuen Überraschungen, die es sonst kaum gab.

Der Bürgersteig war breit genug und die wenigen Autos, die über das aufgewölbte Kopfsteinpflaster tuckerten, konnte man an fünf Fingern abzählen. Da war uns noch der Duft von dampfenden Brauereipferden vertrauter als Benzingeruch. Wenn von der Rollbergstraße der wöchentliche Malzbierwagen heranrollte und wir Kinder mit 10-Liter Blecheimern das leckere dunkelbraune Gebräu holen und die riesigen Kaltblüter streicheln durften, war das ein aufregendes Erlebnis. Zweimal in der Woche klimperte der Leierkasten auf dem Hof den Sportpalastwalzer und wir Kinder durften dem Kriegsversehrten ein paar Pfennige hinabwerfen. Als Dank gab es dann meistens noch ein Lied. Du Oma, warum hat der Mann nur ein Bein? - Jaja, das ist der Dank, für Volk und Vaterland.

Unsere Straße war unser Spielplatz, aber so recht klappte das nie. Überall wurden wir von kreischenden, wütenden Erwachsenen beschimpft und verjagt. Das junge Gesindel wollte man nicht unter seinem Fenster haben. Auf einem nahe gelegenen Gewerbehof spielten wir dann im Dreck Eins-Zwei-Drei-Saurer-Hering oder Vater-Mutter-Kind. Ein Springseil, ein Stück Kreide: das waren unsere Spielsachen. Von irgendwoher hatten wir einen Ball ergattert. Aber gegen die Wand gespielt, erregte der Ball mit seinem Tack Tack Tack nur erneut den Unmut sämtlicher Anwohner, und aus war das schöne Spiel. Ich komm euch gleich hin und dann setzts was!

Spätestens um neun Uhr im Sommer mussten alle Kinder zu Hause sein. Es gab keinen Fernseher, nur ein knarrendes und rauschendes Nordmende Radio mit dicken Elfenbeintasten. Die gute Stube war Besuch oder Familienfestlichkeiten vorbehalten oder eben dem Hörspiel. Dann durfte auch ich als Kind die spannenden Geschichten mitverfolgen. Gebannt saß man davor und musste sich anstrengen, dass man etwas verstand. »Pension Spreewitz« oder die beliebten »Insulaner« waren Programm und willkommene Abwechslung. Ansonsten hieß es bezüglich des Wohnzimmers: Betreten verboten, außer zum Staubwischen. Und der Großvater durfte dort seine Stumpen natürlich auch nicht rauchen, wegen der Gardinen. Die peinlich platzierten, selbstbestickten Sofakissen standen artig in Reih und Glied, jeweils mit einem ordentlichen Spalt in der Mitte, die Zipfel keck aufgerichtet. Irgendwie sinnbildlich: Haust du drauf, gibt es zwar eine Delle, aber die Ecken ragen in die Höhe.

Und so reinlich wie Treppenhaus und Gute Stube, so musste auch die Gesinnung sein. Du Oma, wer war Hitler? Ach Kind, sei ruhig, darüber redet man nicht. Es ist verboten und du kommst ins Gefängnis. - Du Oma, warum darf ich keine Freundinnen mit nach Haus bringen? Jaja, so weit kommt das noch, das wir hier ausgehorcht werden. - Du Oma, haben wir denn etwas zu verbergen? Jetzt gib endlich Ruhe, marsch ins Bett. Wie aus heiterem Himmel fing die Großmutter dann doch an zu erzählen, nachdenklich, zögernd, und ein mitleidiges Lächeln machte sich in ihrem Gesicht breit: ja dieser Doktor - auch ein Jiddeck - das war ein so feiner Mann. Er hat deinem Vater das Leben gerettet und dann haben sie ihn eines Tages abgeholt. Weiteres Nachfragen verbot sich. Das Puzzle hatte ich wohl selbst zu lösen.

Der nächste, fast immer grauenvolle Schultag, wenn ich mit einer Riesenschleife in den Zöpfen und angeprömmelt mit diesen dicken Wollstrümpfen und dem Leibchen, an denen die Strümpfe befestigt wurden, los musste, verdrängte jeden Wissensdurst. Ein verbeulter Blechhenkeltopf für die Schulspeisung und der ungeliebte Turnbeutel waren ohnehin schon zu viel des Guten. Und dann noch meine Klassenkameraden, entweder Flüchtlingskinder, mit denen man nicht sprechen durfte, oder Warzen-, Wanzen-, Läuseköpfe - oder nur Jungs! Doch das Schlimmste waren die Lehrer: Zong, da flog das Schlüsselbund, oder der Zeigestock zuckte mit einem unerbittlichen Knall auf die Fingerspitzen. Einmal beim Schwatzen erwischt, musste man sich vor der gesamten Klasse in eine Ecke stellen oder während des Unterrichts den Raum verlassen, ständig der Gefahr ausgesetzt dem Herrscher der Schule, dem allmächtigen Rektor Rede und Antwort stehen zu müssen. Na und das Schlimmste, was einem Kind damals passieren konnte, war ein blauer Brief von der Schule.

Red dich nicht raus! Da wird schon was vorgefallen sein! Und Peng erhielt man gleich prophylaktisch eine Tracht Prügel. Ja, Ordnung musste sein! Und Anstand! Der bestand darin, dass wir Mädchen vor jedem Erwachsenen einen Knicks machen mussten, die Jungs einen Diener und wir alle gefälligst den Mund zu halten hatten.

Unanständig, das waren die Halbstarken à la Elvis und James Dean, mit Bluejeans am Hintern und lässig pomadiger Frisur mit Ente. Die Golddollar Kette rauchten, Whiskey tranken und Rock ’n Roll übers Transistorradio hörten. Aufsässig und verrucht. Die auf ihren Motorrollern mit ihren Flittchen durch die Gegend fuhren, in der Öffentlichkeit knutschten und nur herumlungerten. Die nichts zu tun hatten. Die man früher ins Arbeitslager gesteckt hätte. Schlimme, verkommene Jugend. Und dann dieses Amerikanisch! Hoffentlich wirst du nicht so! Was daraus nur werden soll?

Siehst ja, was dein Vater macht. Mein Vater, den ich nur »Schorsch« nannte und den ich nur wenige Male in meinem Leben zu Gesicht bekam, war einer der Letzten, der als 17jähriger Funker an die Front musste und sich vor Angst mehrmals in die Hosen gemacht hatte. Er war in russische Gefangenschaft geraten und verfiel, nachdem er heimgekommen war, einem so genannten Ami-Flittchen, das schon schwanger war und mich dann als erstes gemeinsames, eheliches Kind zur Welt brachte. Der absolute Horror für meine Großeltern, die mich dann einfach zu sich nahmen, nachdem meine Eltern mich im Kinderwagen auf dem zerbombten Hinterhof in Kreuzberg abgestellt hatten und dort ein paar Tage und Nächte »vergaßen«.

Alle Kinder dieser Zeit hatten ähnliche Schicksale. Sie waren das Ergebnis zerfallener Familien, in denen die Väter im Krieg geblieben waren oder mit ihren Erlebnissen und Verbrechen nicht fertig wurden. Unzählige, verzweifelte Frauen, die ihren Kindern neue Onkel ins Haus brachten oder Kinder aus Vergewaltigungen am Hals hatten und diese irgendwie groß bekommen mussten. Glücklich jene, die wie in meinem Fall von Großeltern aufgezogen wurden. Und dennoch waren wir Nachkriegskinder zehnmal besser dran als unserer Eltern, denn beißenden Hunger und wirkliche Not lernten wir nicht mehr kennen.

Verwundert es, wenn die Frage »Wer war Hitler?« von keinem beantwortet werden wollte? Selbst im Geschichtsunterricht wurde das Thema verdrängt. Wir kamen nie weiter als bis Napoleon. Und dann stand plötzlich die Besichtigung einer Gedenkstätte auf dem Schulplan. Völlig unvorbereitet standen wir verständnislos glotzend da, glaubten, der Lehrer würde uns hier irgendwas aus einer anderen Welt erzählen. Teilnahmslos trug er uns nackte Fakten und Zahlen vor, spulte sein Pflichtprogramm ab und führte uns dann in einen Kinosaal, um uns mit weiteren Horrorsequenzen in Schwarz-Weiß von Massengräbern und zusammengepferchten, rappeldürren, ausgehöhlten Menschen den Rest zu geben. Zum Abschluss entließ er uns wie üblich mit einem nüchternen, unberührten: noch Fragen?

Fassungslos und schweigend traten wir den Heimweg an. Das konnte nicht wahr sein! - Also Oma, wer war denn nun Hitler? Ist das wirklich wahr, dass Millionen von Menschen in Gaskammern gesteckt wurden? Ja Kind, dass es soweit kommen würde, das wussten wir nicht. Aber was sollten wir denn dagegen tun, oder was hätten wir tun können? Diese verzweifelte, an sie selbst gerichtete Frage wurde uns von unseren Eltern und Großeltern mit auf den Weg gegeben. Und wir Kinder spürten irgendwie eine große Mitschuld, auch wenn wir noch viel zu klein waren, um das im ganzen Ausmaß zu erfassen. Irgendetwas Ungeheuerliches, noch nicht Fassbares schwelte vor sich hin. Nein, so wollten wir bestimmt nicht werden! Wir würden bestimmt unseren Mund aufmachen, wenn wir groß sind! Und wir übten schon mal Renitenz und Widerspruch, wir wollten niemals »anständig« und »ordentlich« gehorsam sein. Davon hatten wir die Nase gestrichen voll, wir wollten unseren eigenen, anderen, neuen Weg gehen. Wir glaubten stärker sein zu können. Kein Mensch sollte Leid erleiden, die Welt müsse besser werden. Make love not war!

Du Oma, wer war denn nun Hitler? Wart ihr es nicht alle zusammen?

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