»Wir sind Handwerker!«

Erinnerungen an die Erzählungen meines Vaters Heinz Barth über den 17. Juni 1953 in Schönebeck-Salzelmen. Von Heinz-Georg Barth.

Am 17. Juni 1953 arbeitete mein Vater wie immer im Malergeschäft seines Vaters Willi Barth. Im Radio wurde von Unruhen und Demonstrationen berichtet. Am Nachmittag kam Dieter, ein Malerlehrling, zu uns. Ich spielte auf dem Hof. Dieter fragte nach meiner Mutter. Ich rief sie und hörte, wie er zu ihr sagte: »Frau Barth, Ihren Mann haben die Russen mitgenommen.« Meine Mutter war geschockt und starrte ins Leere, ehe sie leise fragte: »Dieter, wieso denn das?« Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, während der Lehrling erzählte: »Ja, am Schönebecker Bahnhof hat Ihr Mann von der Treppe aus zu den Menschen gesprochen. Dann kamen die Russen mit Panzern. Aus der Menge haben sie einige rausgegriffen. Den Wilhelm haben sie auch weggeholt. Als sie den hatten, hat Ihr Mann ihn befreien wollen und zum Widerstand aufgerufen. Als die Russen vordrangen, wollte er abhauen, stolperte aber über sein Rad. Dann haben die Russen ihn mitgenommen. Mehr weiß ich nicht, bin vor Schreck gleich abgehauen.«

Die Tage vergingen und es kam kein Lebenszeichen, weder von meinem Vater noch von seinem Freund Wilhelm. Die Fenster mussten verdunkelt werden. Durch die kleinen Rolloschlitze sahen Mutter und ich draußen russische Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett. In den nächsten Tagen bat meine Mutter mehrmals einen Betriebspolizisten aus dem Sprengstoffwerk, der mit uns in der Dr. Tolbergstraße 27 wohnte, um Hilfe. Aber er konnte nicht helfen: »Frau Barth, ich kann da gar nichts machen. Überhaupt nichts. Das ist unmöglich, was musste Ihr Heinz da hin? Ich hab zu ihm gesagt, Heinz, halte dich da raus.«

Zwölf Tage und Nächte verbrachte mein Vater in den Kellerzellen der Kommandantur Bahnhofstraße und in den Kellerräumen der anliegenden SED-Kreisleitung. Nach und nach wurden die Gefangenen aus den überfüllten Kellerräumen verhört. Auch mein Vater kam an die Reihe. »Du Faschist, du Saboteur!« schimpften sie. »Ich bin kein Faschist und kein Saboteur«, wehrte sich Vater. »Wer war dein Auftraggeber?« »Ich hatte keinen Auftrag, bin kein Faschist, bin kein Saboteur. Hier, ich bin Maler! Ich bin Handwerker!«, wiederholte mein Vater später vor uns die Situation, während er beharrlich am Stoff seines Maleranzugs zog.

Die Kellerfenster waren verdunkelt. Die Verhöre wurden im Beisein der russischen Armee von Deutschen geführt. Allmählich lichteten sich die Kellerzellen und mein Vater hatte plötzlich eine Zelle für sich allein. Nur einmal am Tag fiel ein winziger Lichtschein in seine Zelle. »Dann habe ich jedes mal einen Strich in die Wand geritzt. Nach neun Tagen ging die Tür auf, und ich wurde von Russen mit MP im Anschlag rausgeführt. Wilhelm stand bereits auf dem Gang. Rauf auf einen LKW und ab ging es auf den Hummelberg. Aus einem Jeep stiegen Offiziere und sagten: “Wir wissen über euch Bescheid, und was mit Faschisten und Saboteuren geschieht, ist: peng, peng. Du Fallschirmjäger, du Wehrwolf.« Vater und sein Freund Wilhelm bekamen einen Spaten in die Hand und mussten graben: ihr eigenes Grab. Dann mussten sie Probeliegen. Ein Offizier lud die Pistole durch und fragte: »Angst«? Vater antwortete: »Warum soll ich Angst haben, wir sind keine Faschisten, keine Saboteure, keine Rädelsführer.« Und fast im selben Moment sagten Wilhelm und er: »Wir sind Handwerker!« Dann durften sie - dawei, dawei, dawei - ihre Gräber wieder zuschütten. Sie wurden dann zurück in die Kommandantur gebracht, jeder in seine Zelle. Sprechen war verboten. Die Stelle auf dem Hummelberg, wo es während meiner Kindheit ein gern besuchtes Ausflugslokal gab, hat mir mein Vater später an einem 17. Juni gezeigt.

Ich durfte in dieser Zeit in Vaters Bett schlafen, wachte aber nachts oft auf, legte meinen Kopf auf den Nachtschrank und fragte Mutter, wann Papi wiederkomme.

An einem späten Nachmittag kam er endlich zurück. Wir aßen gerade Abendbrot. Mutter erzählte später, dass die 100 Gramm Leberwurst, die es damals pro Woche gab, schon aufgegessen waren, als Vater im weißen Maleranzug endlich wieder in der Tür stand. Zwei Tage lang hatte er weder zu Essen noch zu Trinken bekommen, dann ging plötzlich die Tür auf und ein russischer Major fragte ihn, warum er hier sei. »Das weiß ich nicht«, antwortete Vater. »Dann mach, dass du nach Hause kommst und geh an deine Arbeit«, sagte der Major, den er zuvor nie gesehen hatte, in fast perfektem Deutsch.

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