1945
(Zur Erinnerung an Dich, Onkel Ernst)
Fremder Mann,
im üppig blühenden Sommergarten
stehen wir uns gegenüber.
Du, der Häftling aus Buchenwald,
ich das sechsjährige Mädchen.
Eigenartig schaust du aus.
Dein Gesicht wie eine Maske,
dein Körper nur ein Gerippe.
Deine Augen schauen durch mich hindurch,
du sprichst kein Wort mit mir.
Bist du etwa stumm oder taub?
Dein stumpfer Blick scheint nur auf die
Blütenpracht gerichtet zu sein
und ist doch so weit weg.
Noch in Buchenwald, was weiß ich davon?
Ja, deine Gedanken sind noch in Buchenwald,
wie du später bruchstückhaft berichtet hast.
Du warst wirklich sprachlos geworden,
hattest noch all die erlebten Grausamkeiten
vor deinen Augen.
Die gequälten, geschundenen Leiber
auf den harten Holzpritschen,
Gerippe in zerlumpter Kleidung.
Gesichter, die eigentlich keine mehr waren,
schmerzverzehrt, mehr tot als lebendig.
In den Ohren noch die Schreie des totgeprügelten
Kameraden, der seinen übermächtigen Hunger
mit einer Handvoll abgerissener Blätter
zu stillen versuchte.
Siehst vor dir noch die gegerbten Menschenhäute,
die dich schaudern lassen.
Spürst noch den ständig nagenden Hunger,
die Angst vor Prügel und Folter,
vor den unmenschlichen medizinischen
Versuchen, dem grausamen Sterben.
Totale Entwürdigung, mehr Tier als Mensch,
und doch ein Mensch.
Oh, fremder Mann,
wirst du dich je wieder an das Menschsein
gewöhnen, je noch einmal wieder lachen können?
Werden diese schrecklichen Erfahrungen irgendwann
in deinem Leben verblassen?
Später habe ich nicht gewagt, dich danach zu fragen,
um dir nicht weh zu tun, aber lachend habe ich dich nie erlebt.