Wilder Mann
(Der Geschichte erster Teil)
Im späten Mittelalter, genauer gesagt im Jahre 1418, wurde in der Stadt Hildesheim am alten Markte das erste Fachwerkhaus errichtet. Ein Haus des Ackerbürgers war es und die Menschen, die in ihm leben durften, waren selbstbewusst und voller Freude. Sie waren Handwerker und mit Recht stolz auf das Geschaffene.
Wenig mehr als hundert Jahre später stand ein junger Zimmergeselle vor eben diesem wunderschönen Haus und konnte sich nicht sattsehen. Inzwischen waren schon viele weitere Fachwerkhäuser gebaut worden.
Der Geselle hieß Johannes Loseweck. Er war seiner Zunft entsprechend auf der Wanderschaft und kam von der Marienburg her durch das Goschentor in die Stadt. Seinem letzten Meister hatte er einige Wochen lang in Duderstadt gedient. Dort hatte er viel dazugelernt, vor allem, das Zimmern der Fachwerkgiebel und -dächer.
Einige seiner Meister hatten ihm den wilden Mann beigebracht und nun wusste Johannes genau, auf was er beim Zimmern dieser wichtigen Dachkonstruktion zu achten hatte.
Johannes sah die vielen schönen Häuser der Bürger und wünschte sich sehr, hier ein wenig bleiben zu dürfen. Nach einigem Fragen fand er den Zimmermeister Moritz Wolters. Ein angesehener Mann, wie man Johannes in der Stadt erzählt hatte. Er klopfte nach der Mittagszeit an die Tür des Hauses und bat um Einlass. Der Meister hatte ein Stündchen geruht und war gerade im Begriff, auf dem Zimmerplatz bei den Gesellen nach dem Rechten zu sehen.
Wie es sich gehörte, sagte Johannes seinen Spruch auf und wünschte dem Meister und seiner Familie Gottes Segen. Er bat um Arbeit, so diese denn vorhanden sei, oder um ein Nachtquartier und eine Wegzehr, wenn er denn morgen weiterziehen müsse.
Meister Wolters ließ sich erzählen, woher er komme und wohin er denn schon überall gewandert sei.
Johannes stammte aus Freiburg im Breisgau. Er war vom Süden her durch das ganze Land gezogen. Im Hessischen hatte er es sogar länger ausgehalten, aber das hatte wohl ein wenig mit dem hübschen Töchterchen seines dortigen Meisters zu tun gehabt. Überall habe er dazugelernt und er war stolz, dem Meister Wolters über die Unterschiede des Handwerks, die er in den vielen Landstrichen erfuhr, erzählen zu können.
Moritz Wolters gefiel der junge Mann und auch das, was er zu berichten wusste. Dass er sein Handwerk schon gut verstand, war ohne Zweifel zu erkennen. Er müsste sein Können nur einmal gründlich in der Praxis zeigen.
»Kannst du den wilden Mann?« Wolters sah ihn bei dieser Frage scharf an.
Johannes lächelte und er war um die Antwort nicht verlegen: »Ja, Meister, ich habe ihn zuletzt in Duderstadt gezimmert und vorher schon einige Male im Odenwald und im Thüringischen.«
»Dann weißt du ja wohl auch, wie genau diese wichtigen Stützen des Stuhles gearbeitet werden müssen.«
»Gewiss Meister, es kann das Wichtigste im ganzen Dachstuhl sein.«
»Merk dir Johann, es ist das Wichtigste! - Du bleibst also?« fuhr der Meister fort. Johannes nickte erfreut.
»So geh’ in die Küche zur Magd und lass dir zu Essen geben, du wirst hungrig sein vom Weg. Bring dann dein Bündel auf die Gesindestube und komm alsbald zum Bau des Bürgers Engel in den Katthagen.«
So gut war Johannes schon lange nicht empfangen worden. Er nahm sich vor, sein Bestes zu geben und fleißig und gewissenhaft sein Handwerk zu üben.
Auf dem Bau im Katthagen begann seine Arbeit am Ständerwerk der Wände. Hier wurde das heimische Holz der umliegenden Wälder genutzt, gut abgelagerte Eiche. Es gefiel Johannes beim Meister, bei dem noch zwei weitere Gesellen schafften.
Abends nach dem Essen nahm ihn der Meister beiseite.
»Ich sah heute Nachmittag deine Arbeit und finde sie gut. Du stellst dich geschickt an und scheinst unser Handwerk zu verstehen. Mach weiter so, denn wir werden in wenigen Wochen eine wunderbare Aufgabe bekommen.«
Dann erzählte der Meister ihm von seinem neuen Auftrag, den er vor wenigen Tagen von der Zunft der Fleischer erhalten hatte. Meister Wolters sollte vor dem bisherigen Amtshause der Fleischer ein neues und großes Fachwerkhaus errichten, das sie das »Knochenhauer Amtshaus« nennen wollten. Er ging noch weiter über seine Erzählung hinaus und zeigte Johannes verschiedene Aufrisse des geplanten Hauses.
Der Meister war sehr stolz auf das Vertrauen, das man ihm von den Knochenhauern entgegenbrachte. Und er war begeistert von diesem Entwurf, an dem er selbst tüchtig mitgewirkt hatte.
»Sieh dir nur einmal diesen himmelhoch aufragenden Giebel an«, sagte er zu Johann, »und die einzelnen Geschosse, die spielerisch übereinander vorkragen.«
»Als wenn die Erdenschwere nicht vorhanden ist«, meinte Johannes.
»Genauso sieht es aus und es wird eine schwere Arbeit sein, aber sie wird uns gelingen«, und Moritz Wolters fügte träumerisch hinzu, »vielleicht wird es das Schönste, was ich in meinem Leben bauen durfte.«
»Und was wird im Torbalken stehen?« Johannes wollte immer schon vorher wissen, welche Inschriften über dem Eingang einzuschlagen waren. Er hatte schon oft an solchen Runen mitarbeiten dürfen.
»Das ist noch nicht fest bestimmt, aber es wird dabei gewiss ein ›anno 1529‹ sein.
Der Meister ahnte damals noch nicht, wie Recht er mit der Vermutung haben sollte, dass dies das denkwürdigste Haus werden würde, das er in seinem Leben errichten durfte. Moritz Wolters schickte sich mit seinen Gesellen an, das schönste Fachwerkhaus der Welt zu bauen.
Das Amtshaus
(Der Geschichte zweiter Teil)
Da war der kleine Junge, der 400 Jahre nach der vorherigen Erzählung in Hildesheim geboren wurde.
In einer Stadt, in der es im Laufe der Jahrhunderte wohl an die 700 herrliche Fachwerkhäuser gab und die man in Deutschland gewöhnlich »Das Nürnberg des Nordens« nannte. Eine unwiderlegbare Bezeichnung.
Es waren viele unverfälschte gotische Ackerbürgerhäuser darunter. Neben den hohen Toreinfahrten für die Erntewagen lagen die Wohn- und Schlafräume, Diele und Küche. Darüber befanden sich, zum Ausgleich der hohen Einfahrten, die niedrigen Zwischengeschosse mit den Kammern für das Gesinde. Erst darüber folgte das Obergeschoss, das nach der Straßenseite hin überragend erbaut war. Man nannte das vorgekragt.
Zwischen diesen schönen Häusern wuchs der Junge auf. Oft sah er sich die glanzvollen Schnitzereien in den Balken an, die bis zu verschwenderischer Bildfülle gingen und den zunehmenden Reichtum der Stadt ausdrückten.
Doch das Schönste, woran er sich immer wieder erfreute, war das Knochenhauer Amtshaus, von dem ihm seine Mutter erzählte, dass es das schönste Fachwerkhaus der Welt sei. Oft hat er davor gestanden und auf dem Marktplatz am Rolandbrunnen die vielen Tauben des alten Marktes gefüttert. Die zutraulichen Tiere saßen auf seiner kleinen Hand und pickten die Körner ohne Angst. Sie gehörten zum Markt, wie das Rathaus, das Tempelherrenhaus, das Wedekindhaus und vor allem das Knochenhauer Amtshaus.
Und es hatte immer einen besonderen Anflug von Stolz ob des Prädikates, das ihm auf der ganzen Welt zuteil wurde. Würde strahlte es aus. Man sah ihm an, mit welchem großen Können vor 400 Jahren einmal die tüchtigen Handwerker, die Zimmerleute des Meisters Wolters, dieses Werk geschaffen hatten.
Und man las innerhalb der Inschriften in den Giebelbalken das ›anno 1529‹, das der Zimmergesell Johannes Loseweck damals als Belohnung für sein besonderes Können dort einschlagen durfte.
Abgrund der Zeit
(Der Geschichte dritter Teil)
Vom zweiten bis zum dritten Teil der Kunde vergehen kaum mehr als zehn Jahre.
Ein Abgrund tat sich am schlimmsten Tag für die Geschichte einer Stadt auf. Es war ein warmer Frühlingstag, wolkenlos und voll lauer Winde. Es war der 22. März 1945, um die Mittagszeit.
Die Bomber kamen aus dem Westen. 300 Lancastermaschinen der britischen und kanadischen Luftwaffe. In ihren Flugkarten stand als Deckname für Hildesheim der Ziel-Code »Finnock«. Diesen Punkt flogen sie an. Und sie warfen 1063t Bomben auf das Zentrum dieser mittelalterlichen schönen Stadt.
Zwischen 13.13 Uhr und 13.26 Uhr wurde fast alles ausgelöscht. Über 1000 Menschen starben. In 13 Minuten war Hildesheim verbrannt. In nicht einmal einer Viertelstunde versanken die 700 Fachwerkhäuser in ihren Erinnerungen. Allen voran das schönste Fachwerkhaus der Welt, das Knochenhauer Amtshaus.
Und während eine Todeswolke aus Brand und Rauch zu einer Höhe von 5000 Metern anwuchs, vermerkte einer der abfliegenden Piloten in seinem Lancasterbomber: »Ein leichter Trip.« Und ein anderer fand, »it was a good show.«
Thomas Mann sagte zu diesem und zu anderen schwarzen Tagen wenige Tage später:
»Zuletzt ist das deutsche Unglück nur das Paradigma der Tragik des Menschseins überhaupt. Der Gnade, deren Deutschland so dringend bedarf, bedürfen wir alle.«
Es fiel damals schwer, daran zu glauben, dass Hildesheim sich von diesem Absturz je wieder erholen würde und noch einmal zu einem lebendigen Gemeinwesen mit kulturellem Mittelpunkt erblühen könnte.
Und doch ist es Wirklichkeit geworden. Phönix hat sich aus der Asche erhoben. Und es soll zum Abschluss der drei Teile der Kunde nicht versäumt werden, daran zu erinnern, dass es nach weiteren 40 Jahren gelungen ist, selbst das Knochenhauer Amtshaus nach ursprünglichen Plänen und Fotografien in seiner alten Pracht und Schönheit wieder aufzubauen.
Ein äußeres Zeichen dessen, was Menschen trotz allem Leid vermögen und als Mahnmal dafür, dass wir niemals je wieder vor solchen Abgründen stehen dürfen.