Wer von uns damals in den Jahren des Krieges den hinweisenden Namen “Iwan” benutzte, meinte damit im Allgemeinen Russland oder die russischen Menschen. Sozusagen als “Begriffsverwandtschaft” verstanden. Dabei musste das nicht negativ gemeint sein. Genau so wenig, wie die Deutschen von den Österreichern als “Piefke”, von den Franzosen als “Boche” oder den Niederländern als “Moffe” bezeichnet werden. Auch das muss nicht ausgesprochen abfällig gemeint sein. Der Name Iwan ist in Russland halt ein häufig vertretener Vorname. Daher hat man diese Bezeichnung wohl als Synonym für das Land und seine Bewohner ausgewählt.
In unserer kleinen Umgebung einer Flakstellung befanden sich im Krieg sechs russische Gefangene. Sie gehörten zu denen, die das Glück hatten, einerseits der Front entronnen, andererseits aber auch aus einem der großen und schlimmen Gefangenen-Lager in der Senne oder an anderer Stelle auf Anforderung militärischer oder ziviler Stellen ausgesondert worden zu sein. So waren sie dann in unserer Stellung gelandet. Zwei von ihnen trugen diesen häufigen Vornamen Iwan und wir unterschieden sie wegen ihrer konträren Körpergröße einfach mit “kleiner” und “großer” Iwan. Die anderen vier hießen Wassillj, Dimitrij, Alex und Sergej.
Sie hatten es angesichts der Tatsache, dass sie in Gefangenschaft waren, eigentlich gut bei uns. Am Tage konnten sie sich völlig frei bewegen Sie wären im Hinblick auf die sehr faire Behandlung auch dumm gewesen, einen Fluchtversuch zu unternehmen. In der Nacht wurde ihre Wohnbaracke versperrt und von Zeit zu Zeit vom Posten kontrolliert. Die Sechs gingen uns bei täglichen Verrichtungen wie Aufräumen, Gerätereinigen und sonstigen Tätigkeiten zur Hand. Da wir oben auf unserem Berg keinen Wasseranschluss hatten, musste das kostbare Nass von einer nahen Ansiedlung in Kannen und Eimern herangeholt werden. Auch dies gehörte zu den Aufgaben der Russen. Sie verrichteten diese Arbeit allein und ohne jede Begleitung.
Es hatte sich im Laufe der Zeit ein freundliches Zusammenleben herausgebildet, bei dem der eine den anderen achtete. Etwa nach der Devise: Wir kleinen Soldaten haben offensichtlich beide den Krieg nicht angezettelt, und so verrichtete jeder seine ihm auferlegten Pflichten., ohne sich gegenseitig als “Feind” zu betrachten. Wir erkannten hier mehr als einmal am Tag, dass der Feind nur der ist, dessen Persönlichkeit man als Mensch noch nicht kennenlernte, der weitab im Graben lag und schießen musste oder der in einem Panzer saß und unsichtbar war. Die von der deutschen Propaganda herausgestellten “Untermenschen” haben wir nie in diesen Gefangenen sehen können, im Gegenteil, es waren einfache Leute, mit deren Schicksal niemand von uns hätte tauschen mögen.
Sergej war für uns zuständig. Er war ein netter Bursche und absolut zuverlässig. Er hatte immer ein freundliches, lachendes Gesicht. Lesen und schreiben konnte er nicht. Das hatte er mit vier seiner Kameraden gemeinsam. Nur einer, der “kleine” Iwan, stellte eine Ausnahme dar. Doch bei ihm kehrte sich alles ins krasse Gegenteil um: Er war nicht nur kein Analphabet, sondern hatte in Moskau Germanistik und Philosophie studiert. Damit hatten wir jemanden, der seinen Kameraden auch etwas kompliziertere Dinge übersetzen konnte. Der “kleine” Iwan sprach fließend deutsch.
Wie fast alle Menschen, die sich in einer Kriegsgefangenschaft befanden, waren unsere Gefangenen außerordentlich geschickt. Für Sergej war es überhaupt kein Problem, mit nassem Holz einen Kanonenofen in Gang zu bringen. Dazu benötigte er lediglich sein Taschenmesser. Das war praktisch sein größter Schatz. Mit ihm konnte er schnitzen und allerhand schöne Dinge anfertigen. Mit ihm als Werkzeug brachte er es auch fertig, aus dem Blech einer Konservendose ein kleines Scharnier für eine Holzklappe zu basteln.
Diese praktische Veranlagung glich das Handikap des Analphabeten zwar kaum aus, doch sie milderte diese Tatsache entscheidend. Probleme, die mit Befähigungen solcher Art zu tun hatten, gab es bei Sergej so gut wie gar nicht. Manchmal hatte man das Gefühl, einem Waldmenschen gegenüber zu stehen. Einem Wesen, das mit großer Wahrscheinlichkeit Wochen oder Monate allein und ohne jede Hilfe fertig würde. Demgegenüber stand seine Einfältigkeit und die völlige Abstinenz zu technischen Dingen oder modernen Errungenschaften. Er hatte nie vorher ein Radio gekannt, noch nie einen Film gesehen. Und bei den meisten Kameraden war dies kaum anders. Diese Einfalt hatte eines Tages zur Folge, dass aus unserem Vertrauensverhältnis ein zusammenstürzendes Kartenhaus wurde.
Durch dienstliche Obliegenheiten war ich gehalten, mittels eines tragbaren, batteriebetriebenen Rundfunkempfängers auf einer bestimmten Sonderfrequenz geheime Mitteilungen und Hinweise abzuhören. Da hierfür bestimmten Zeiten vorgesehen waren, konnte es durchaus vorkommen, dass mit dem speziellen Gerät zu anderer Zeit auch Radiosendungen empfangen wurden.
Eines schönen Sommertages trat ich mit dem Empfänger unter dem Arm vor unsere Befehlsstelle, in angenehmer Stimmung flotte Musik hörend. In diesem Moment kam Sergej über den Hauptweg auf mich zu. Als er erkannte, was hier vor sich ging, oder besser, als er dieses nicht zu begreifen im Stande war, wurde er leichenblass. Er konnte einfach nicht verstehen, welch Teufelszeug ich da unter dem Arm trug und wieso dort so laute Musik herauskam. Noch dazu ohne jede Kabelverbindung. Es war das erste Mal, dass ich Sergej nicht in sein sonst permanent lachendes Gesicht sehen konnte. Er war ernst geworden, ängstlich zumal. Er rief total verschreckt noch laut meinen Namen, drehte sich um und lief zurück in seine Baracke. Es war als sei Satan persönlich hinter ihm her.
An den folgenden Tagen blieb Sergej “in Deckung”. Er vermied es, mir über den Weg zu laufen. Und weil mir der Vorfall doch ein wenig leid tat und ich ihm gern etwas mehr über dieses - zugegeben, auch für uns noch recht ungewohnte - Phänomen erzählen wollte, hätte ich ihm gern seine Ängste genommen. Doch ich bekam ihn zunächst einmal nicht mehr zu sehen. Der Waldmensch wurde deutlich, nämlich durch Verborgenheit.
Wenige Tage später ergab es sich, völlig unabhängig von diesem Vorfall, dass ich mit meinem Fotoapparat einige Aufnahmen aus unserer Umgebung und unserem Alltag machte. Dabei wollte es nun wirklich der Zufall, dass Sergej hinter einer Gerätebaracke hervortrat, während ich gerade an dieser vorbeiging. Spontan wollte ich mich ihm wieder freundlich zuwenden indem ich den Apparat hochnahm, um ein Foto zu machen. Aber dies war wohl das Dümmste, was mir passieren konnte. Sergej muss wieder unmittelbar an den Teufel gedacht haben, der es auf ihn abgesehen hatte. Nun sollte er auch noch fotografiert werden. Das war einfach zuviel der modernen Welt für ihn. Er drehte sich sofort um und rannte weg. Der etwa 25jährige Mensch verhielt sich wie ein Kind, noch dazu wie ein völlig unerfahrenes. Und in diesem Stadium muss er sich auch wohl irgendwie befunden haben.
Es ist nicht einfach, sich in das Wesen und die Gefühle eines Menschen hinein zu versetzen, der so ganz anders aufgewachsen ist. Schon gar nicht, wenn man selbst noch relativ jung und wenig erfahren ist. Das Erlebnis war mir eine Lehre, auch wenn ich damals vielleicht noch nicht das richtige Verständnis für jenes Verhalten aufbringen konnte. Eine Lehre insofern, als ich im späteren Leben, wenn auch nicht in so krasser Form, so aber doch manche Situation erlebte, die meine Entscheidungen, in Erinnerung an diesen russischen Gefangenen, beeinflussen konnten. Auf Menschen zuzugehen mit Feingefühl, ihn nicht zu erschrecken oder gar zu verletzen.
Wenige Tage nach diesen Vorfällen bekamen wir neue Aufgaben. Die Gefangenen blieben zurück.
Ich habe Sergej nicht wiedergesehen, aber ich habe mich noch oft an den Waldmenschen erinnert.