Ein Stahlhelm voll Milch

Ein Junge überlebt wie durch ein Wunder den Angriff eines Tieffliegers kurz vor Ende des Krieges

Im Herbst 1944 hatten wir unser Dorf vor der anrückenden Front verlassen müssen und waren in den nahe gelegenen Wald gezogen. »Es ist nur für ein paar Tage«, hatte mein Vater gesagt, als wir Bretter, Balken, Bettzeug, einen Tisch, eine Kanne voll Milch, ein Säckchen Kartoffeln und einige Lebensmittel aus der Vorratskammer auf den Pferdewagen luden.

»Wir bleiben hier im Wald bis die Amerikaner kommen, dann können wir wieder zurück in unser Haus«, verkündete Vater abends, als die Bretterbude fertig aufgebaut war und wir uns total erschöpft an einem kleinen Feuer wärmten.

Ich fand das alles als Zehnjähriger richtig aufregend und spannend. Meine Mutter saß da, schaukelte mein kleines, halbjähriges Brüderchen in den Schlaf und weinte still vor sich hin. Das konnte ich gar nicht verstehen.

Sobald es dunkel wurde, musste das Feuer ausgemacht werden. »Damit keiner sieht, dass hier jemand ist«, sagte Vater. In der Nacht hörte ich zum ersten Mal in der Ferne starken Geschützdonner. Ich zog mir schnell die Decke über den Kopf, spürte aber keine Angst.

Am nächsten Morgen ging ich mit meinem Vater in unser Dorf zurück. Wir holten die beiden Kühe, die noch im Stall standen und trieben sie auf eine eingezäunte Weide, die nicht allzu weit von unserer Behausung am Waldrand lag. Diese Weide gehörte uns zwar nicht, aber da der Eigentümer, wie Vater wusste, schon Wochen vor seiner Flucht alle Kühe verkauft hatte, war es für ihn in dieser Situation selbstverständlich, dass wir die Weide nutzen konnten.

Da das Gras auf der Weide schon teilweise abgeweidet war und für unsere Kühe nicht lange gereicht hätte, fragte mein Vater mich, ob ich die Kühe nachmittags einige Stunden auf den angrenzenden, nicht eingezäunten Wiesen hüten würde. Für mich war es selbstverständlich, dass ich gleich am nächsten Tag mit dem Hüten der Kühe begann.

Meine Mutter gab mir ein Butterbrot mit Schmalz mit. Sie ermahnte mich ganz eindringlich, die Kühe nur bis zu dem kleinen Buchenwäldchen weiden zu lassen, das man von unserer Unterkunft aus sehen konnte. Ich versprach es und rannte los zu den Kühen.

Die beiden Rotbunten muhten aufgeregt, als ich ankam, und stürzten sich gleich auf das noch frische Grün der Nachbarwiesen. Nach zwei Stunden war ich mit den beiden Milchkühen bis vor das Buchenwäldchen gekommen. Ich hatte jetzt Zeit, mich hier einmal umzusehen.

Mir fiel auf, dass mitten in dem kleinen Waldstück Schützengräben ausgehoben und mit Ästen abgedeckt waren. Vielleicht sind noch Soldaten hier, dachte ich und wartete ab, ob sich etwas bemerkbar machte. Aber es rührte sich nichts und neugierig, wie ich nun einmal war, deckte ich ein paar Reisigäste ab.

Was lag denn da? Ich stutzte! Das sah aus wie der Stahlhelm, den Onkel Paul mir letztes Jahr gezeigt hatte, als er als stolzer Soldat bei uns zu Besuch war. Ob hier noch irgendwo ein toter Soldat liegt? Bei diesem Gedanken wurde es mir doch ein wenig unheimlich. Vorsichtig suchte ich den ganzen Graben ab, fand aber außer dem Stahlhelm nichts.

Wenn dieser hier liegen bleibt, dann rostet er vor sich hin und das wäre doch schade.Während ich noch darüber nachgrübelte, kam mir plötzlich eine Idee.

»Ich mach’ den Helm sauber, melke Milch hinein und schenke es dann meinem Brüderchen, denn der hat heute Namenstag!« rief ich begeistert aus.

Dann machte ich mich daran, in dem schmalen Wasserrinnsal, das durch das Wäldchen plätscherte, den Helm sauber zu machen.

Noch nie hatte ich eine Kuh gemolken, wohl aber der Mutter sehr oft zugeschaut. Mutig hockte ich mich unter meine Lieblingskuh und begann zu strippen. Nach einer Weile kam tatsächlich auch Milch heraus und ich schaffte es, den Stahlhelm voll zu melken.

Gerade wollte ich die Kühe in Richtung der eingezäunten Weide treiben, da sah ich über mir zwei Flugzeuge vorüberdonnern. Was für Flieger es waren, wusste ich nicht. Plötzlich drehte einer ab und kam im Sturzflug zurück. Ich fand das toll und winkte dem Piloten zu, den ich deutlich erkennen konnte.

In diesem Augenblick gab es einen furchtbaren Knall, und ich wurde zu Boden geworfen. Ich spürte noch, dass ich mit dem Kopf auf etwas Hartes aufschlug, dann wurde ich besinnungslos.

Irgendwann hörte ich die vertraute Stimme meiner Mutter.

»Junge, mein Junge, wach doch auf!« flehte sie mich an. Ich versuchte, die Augen zu öffnen, aber es ging nicht. In meinem Kopf hämmerte es und der rechte Arm schmerzte.

»Mama, es tut alles so weh!« stöhnte ich laut. Meine Mutter rieb mir mit dem Taschentuch den Dreck aus den Augen. Was ich dann sah, werde ich mein Leben lang nicht vergessen.

Ich lag neben einem Krater und links und rechts von mir erkannte ich die zerfetzten Körper von unseren beiden Kühen. Ein beißender Geruch lag in der Luft, und ich musste brechen.

Schließlich gelang es mir, in die Arme meiner Mutter zu kriechen.
»Es ist schlimm, dass unsere Kühe kaputt geschossen wurden, aber dass du es überlebt hast, ist ein Wunder. Du hast einen guten Schutzengel gehabt!« sagte sie mit tränenerstickender Stimme und drückte mich ganz fest an sich.

»Warum hat der Mann in dem Flieger das getan?« fragte ich leise.

Meine Mutter sah mich traurig an und murmelte: »Junge, das ist der schreckliche Krieg.«

Kurze Zeit später kam mein Vater keuchend angerannt. Als er sah, was passiert war, wurde er wütend. »Dieser verdammte Krieg!«

Dann strich er mir liebevoll über meinen verdreckten Haarschopf und meinte: »Wie gut, dass du nicht mehr abbekommen hast.«

Und zu meiner Mutter gewandt, sagte er: »Es hätte ja noch viel schlimmer kommen können, nicht wahr, Anna?«

Mutter nickte.

Lange betrachtete Vater die zerschossenen Kuhleiber und schüttelte immer wieder seinen Kopf. Dann setzte er sich und sagte mit ernster Stimme: »Morgen früh gehe ich nochmal ins Dorf. Vielleicht finde ich irgendwo noch eine Kuh. Wir brauchen doch Milch für unseren Kleinen.«

In diesem Augenblick fiel mir der Stahlhelm mit der Milch ein.

»Papa, guckst du mal, ob du irgendwo da hinten am Zaun einen Stahlhelm findest?« »Einen Stahlhelm!« Er sah mich verwundert an, entdeckte dann aber tatsächlich den Stahlhelm voll Milch an einem Eckpfahl.

»Das ist mein Namenstagsgeschenk für unseren Max!« verkündete ich stolz und meine Mutter versuchte zu lächeln.

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