Helmut beugte sich über seinen alten, zerkratzten Schreibtisch, auf dem sich abgegriffene Bücher, Kladden und Alben türmten. Seine Hände, übersät mit braunen Flecken und hervortretenden dunklen Adersträngen, umfassten zitternd ein großes vergilbtes Foto.
»1924«, brummelte er.
»Was war 1924, Opa?«
Schwerfällig sank Helmut auf den gepolsterten Stuhl und seufzte. Er hatte seinen zwölfjährigen Urenkel Kai, der ihm mit verwuscheltem hellblondem Haarschopf im Schlafanzug gegenüber saß, für eine Weile vergessen. Nun blickte er ihn zwinkernd an.
»Am 22. April 1924 wurde ich geboren.«
»Weiß ich doch. In Schmalkalden, im Thüringer-Wald.«
»Mm.«
»Erzähl Opa, erzähl. Wie wars damals?«
Helmut strich gedankenvoll über sein aschgraues Haar. Oft hatte er Kai lustige Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend berichtet, doch sie hatten wenig mit der damaligen Realität zu tun gehabt.
»Warste ein Nazi, Opa?« Wie ein Schlag ins Gesicht prallte diese Frage auf Helmut nieder. Fahrig griff er nach seiner abgewetzten Pfeife, um sie umständlich zu stopfen und anzuzünden. Sehr wohl bemerkte er, wie Kai ihn mit seinen dunkelblauen wachen Augen beobachtete. Zwei Züge gestand Helmut sich zu, dann sah er den Jungen durchdringend an.
»Und wenn es so gewesen wäre?«
Kais schmale Augenbrauen zogen sich zusammen. Er grinste verlegen. »Weiß nich«, nuschelte er.
Helmut lehnte sich zurück. Die Pfeife schmauchend im Mundwinkel, die trüben Augen unter den dicken Brillengläsern in die Ferne gerichtet, begann Helmut zögernd zu sprechen:
»Unsere Familie besaß damals ein großes Anwesen, die Bohrmühle«.
»Das Haus mit den vielen Türmchen und Erkern?«;
»Das war die Villa Bohrmühle, in der meine Großeltern väterlicherseits lebten. Zur Bohrmühle gehörte die Fabrik, in der Werkzeuge, Schränke, Gartengeräte und … «
»Spielzeug gemacht wurde«, vollendete Kai den Satz.
»Und das Herrenhaus gehörte dazu. Dort wohnte ich mit meinen Eltern, meinen Schwestern Margit und Anke und meinem Kindermädchen Marie. Ein dreistöckiges im Landhausstil erbautes Haus, mit unzähligen Butzenfenstern.«
»Und grünen Fensterläden, das haste mir schon erzählt.« Kai zog die Nase kraus.
»Und den Stallungen für Vaters Pferd Moritz, die Kutschen und Zugpferde«, fuhr Helmut unbeirrt fort. Kai legte die Hände vor den Mund, als wollte er ihn versiegeln. Schalk blitzte in seinen Augen, obwohl Helmut ihn mit ernster Miene ansah. Es entstand eine Pause. Helmut konnte nur schwer ein Schmunzeln unterdrücken.
»Mit den zwei Gesindehäusern für die Dienstboten und den Kutscher Erwin mit seiner Familie, standen alle Gebäude so zueinander, dass in der Mitte ein großer Innenhof entstanden war«, sprach er weiter. »Mutter ließ es sich nicht nehmen, ihn selbst mit vielerlei Blumen zu schmücken. Sie hatte ein grünes Händchen.«
»Mama auch!«
»Sie ist ihrer Urgroßmutter in vielem ähnlich.« Helmut dachte daran, wie oft Anne ihn an seine Mutter erinnerte, doch er wollte nicht abschweifen. Er räusperte sich. Mit der linken Hand strich er übers Kinn, wie er es immer tat, wenn ihn etwas anrührte.
»Ringsum erstreckte sich ein Tannenwäldchen mit dem familieneigenen Friedhof und dem Teich, - nach unserer Familie benannt.« Stolz nickte er.
»Warn wir damals reich?«
»Wohlhabend, du Vorwitz, wohlhabend.« Helmut lächelte. »Mein liebster Spielkamerad war mir mein Hund Bär, ein Neufundländer. Auf ihm konnte ich reiten, wie auf einem Pony.»
»Wie ich auf Elfi, als ich klein war!» Kai lachte.
»Genau so.«
Bedächtig nahm Helmut die kalt gewordene Pfeife aus dem Mund und legte sie in den bereitstehenden Aschenbecher. Kai, vornübergeneigt, zappelte mit den langen Beinen.
»Uwe, der Sohn unseres Kutschers war mein bester Freund. 1930, ich erinnere mich genau, standen wir stolz mit den Schultüten vor der Knabenschule Schmalkaldens. Doch bald war unsere Freude dahin. Der alte Lehrer Seibel hielt auf Zucht und Ordnung, und schnell hatten wir Rabauken Fingerstreiche erhalten.«
»Er hat euch geschlagen?«
»Das war üblich.«
»Is heute verboten.«
»Damals nicht, - trotzdem war es für mich als Nesthäkchen eine neue schmerzliche Erfahrung. 1931 nahm die Arbeitslosigkeit zu. Auch uns ging es finanziell nicht mehr so gut. 32 dann stand die Firma kurz vor dem Bankrott.«
Helmut schlürfte schweigend den kalt gewordenen Kaffee, den Kai mitgebracht hatte. Jetzt musste er es aussprechen. Er wusste es.
»Als Adolf Hitler am 30.1.1933 Reichskanzler wurde, kannte der Jubel in unserer Familie keine Grenzen. Alle Hoffnungen setzten wir auf ihn.«
»Nein!« Kai sprang auf. Bestürzung spiegelte sich in seinem Gesicht.
»Wir erstickten unsere Bitterkeit, indem wir uns zu ihm bekannten, - ihn idealisierten.«
Kai rührte sich nicht. Er presste die Lippen zusammen und ließ Helmut nicht aus den Augen.
»Ich war damals noch nicht ganz neun Jahre alt, Kai«, brauste Helmut auf. »Verstehst du denn nicht! All meine Gedanken und Gefühle drehten sich nur noch um die heldenhaften Taten, die Hitler vollbringen würde! - Ich hörte und las von nichts anderem mehr! - Im Radio, in der Zeitung, in der Schule, - bei all unseren Freunden, Bekannten, Nachbarn, - überall wurden Loblieder auf ihn gesungen. Mit System wurden wir - manipuliert!« Helmut atmete schwer. Kai war still ans Fenster getreten und drehte ihm den Rücken zu.
»Zum besseren Verständnis will ich dir meinen Wunschzettel von Weihnachten 33 vorlesen, Kai, - bitte.« Ungeduldig blätterte Helmut einige Alben durch. Mit heiserer Stimme las er vor:
»Ich wünsche mir marschierende Spielnazis
und Nazis auf dem Pferd.
Ein Hitlerbild, und bitte, bitte eine Jungvolkjacke.«
Langsam drehte Kai sich zu seinem Urgroßvater um. Trotzig sah er ihn an.
»Was für ne Jacke?« Bevor Helmut antworten konnte, stand seine Enkelin Anne in der Tür.
»Jetzt aber Schluss ihr beiden. Morgen ist auch noch’n Tag. Marsch ins Bett, Kai!« Ohne ein Widerwort, was sonst nicht seine Art war, lief Kai zur Tür.
»Nacht Opa!«
»Gute Nacht, mein Junge. Wahrheit tut manchmal weh, wie eine böse Lüge, wenn sie kurze Beine hat«, versuchte Helmut die Stimmung zu entschärfen. Doch das hörte Kai nicht mehr. Er hatte das Zimmer ohne ein weiteres Wort verlassen. Anne blickte Helmut sorgenvoll an.
»Was ist los, Opa?«
»Hat er Anfang des Jahres mit der Schulklasse Auschwitz besucht, oder nicht?«
»Was hat das mit deinen lustigen Geschichten von früher zu tun? Du warst doch kein Verbrecher!«
»Aber ein überzeugter Mitläufer! - Alles hätte nicht passieren können, wenn es uns nicht gegeben hätte.«
»Du hast doch nichts Böses getan.« Anne beugte sich zu Helmut hinunter und legte zärtlich ihre warmen Arme um seinen Hals.
»Ich hab dich lieb.«
»Ich weiß Kind, - nun lass mich allein.«
Leise klickte die Tür hinter Anne ins Schloss. Helmut stand auf. Er streckte seine steifen Glieder. Er fühlte sich so erschöpft, als wenn er einen steilen Berg erklommen hätte, von dem es kein zurück gab. Er trat zum Fenster und blickte lange auf die menschenleere dunkle Straße hinunter.
***
Leise durchquerte Kai das Zimmer seines Urgroßvaters, der im Sessel vor dem Fenster saß.
»Opa, schläfst du?« Helmut öffnete die Augen. Er lächelte Kai an.
»Setz dich zu mir, mein Junge. -Ich hab auf dich gewartet.« Kai hockte sich auf das dicke bunte Kissen zu Helmuts Füßen. »Mama sagt, ich darf dich nich wieder aufregen«, nuschelte er. Schmunzelnd sah Helmut ihn an und strich ihm übers Haar.
»Sie sorgt sich halt um ihren klapprigen Großvater.«
Kai rutschte auf seine Knie und legte den Kopf an Helmuts Beine. So war es mit Opa und ihm. Ohne viele Worte renkte sich alles wieder ein.
»Erzählste weiter«, fragte er unbeschwert.
»Ja, heute sollst du hören, was ich 1934 erlebte.«
»Schlimm?«
»Eher lustig. Wie du weißt, wünschte ich mir Weihnachten 33 eine Jungvolkjacke. Ich bekam sie, denn sie war bestimmt für den 1. April 34. An diesem Tag wurde ich als Jungvolkjunge in die Hitlerjugend aufgenommen.«
»Also eine Jacke für Pimpfe«, grinste Kai.
»Das hörte ich nicht gern. Voller Stolz posierte ich für ein Foto.«
»Haste das noch?«
»Sicher, es liegt auf dem Schreibtisch, auf dem blauen Album.«
Flink wie ein Wiesel kam Kai, es in der Hand schwenkend, zurück.
»Du siehst wie’n kleiner Soldat aus!«
»Zackig, Kai, zackig! Mein Großvater nannte mich einen Jüngling mit Oberhemd und Schlips, und meine Großmutter legte mir nahe, mir nun alle Tugenden eines solchen zuzulegen.«
Kai schnitt eine Grimasse.
»Meine Schwestern bewunderten mich. Ich war der glücklichste Junge, den du dir denken kannst«, flüsterte Helmut mit zittriger Stimme.
»Passend zu deinem Geburtstag!« rief Kai und sah Helmut aufmerksam an. Helmut zupfte ihn am Ohr und fuhr gefasst fort.
»Ja, zwei Tage nach Hitlers Geburtstag. Ich wurde zehn Jahre alt. In neuer Würde fühlte ich mich sehr erwachsen. Inzwischen besuchten Uwe und ich im letzten Jahr die Knabenschule. Wir erwarteten freudig die Sommerferien. Soll ich dir erzählen, was wir anstellten?«
»Klaro!«
»An einem heißen Nachmittag spielten wir Indianer. Aus alten Decken bauten wir ein Zelt, direkt unter einen Mirabellenbaum.«
»Lecker.«
»Mein Vater hatte uns das Pflücken strengstens verboten.«
»Bestimmt wegen dem blöden Einkochen. Mama macht auch immer so’n Theater mit den Kirschen. - Und?« Kai wirbelte durchs Zimmer.
»Genau so haben wir’s gemacht. Wir tanzten einen zünftigen Indianertanz im Zelt und die Mirabellen prasselten vor unsere Füße.«
»Raffiniert!«
»Mm, gegen das Verbot hatten wir nicht verstoßen, und …«
»Runtergefallene durftet ihr aufsuchen.« Kai plumpste auf das Kissen. »Ham’se euch erwischt?«
Helmut schüttelte den Kopf.
Dann zwinkerte er schelmisch.
»An einem Abend passierte etwas.«
»Was denn, was denn?«
»Setz dich wieder, du unruhiger Geist. Mutter, Großmutter, meine Schwestern, Uwe und ich waren im Hof versammelt und spielten Verstecken. Ich lief über die morschen Bretter des Baches, um ein besonders gutes Versteck zu suchen. Da passierte es. - Ich verschwand!«
»Die Bretter sind gekracht«, gluckste Kai.
»Ich fiel durch ein schmales Loch ins Wasser.«
Kai lachte hell auf und Helmut stimmte dröhnend ein.
»Mutter kam voller Schrecken angelaufen. Ich tauchte langsam wieder auf. Zum Glück hatte ich mir nichts getan.«
Helmut atmete tief durch. Kai konnte sich nur schwer beruhigen.
»Nun zu dir, Bursche. Wann, hat Anne gesagt, sollst du ins Bett?«
»Erst um neun. Was habt ihr noch angestellt?«
»Unsere Ferien neigten sich dem Ende zu, als noch etwas geschah.«
Gespannt sah Kai Helmut an.
»In der großen, leeren Halle der Fabrik stand die Kreissäge. Da keine Arbeiter mehr kamen, machten Uwe und ich uns daran, sie nach interessanten Sachen abzusuchen. Wir fanden schließlich eine verschlossene Büchse.«
»Was war drin?«
»So neugierig waren wir auch. Wir suchten Hammer und Nagel, schlugen zu. Ein langer, schwarzer Strahl fuhr uns ins Gesicht und auf die Hosen.«
»Mensch Opa, …?«
Helmut nickte.
»Erschrocken nahmen wir unsere Taschentücher, wischten und wischten, und verschmierten uns noch mehr.
Was uns an diesem Tag bevorstand, kannst du dir denken.«
»War’s schlimm?«
»Wir hatten es verdient.«
»Mehr Opa, mehr!« Mühsam blieb Kai sitzen.
»Viel mehr kann ich nicht berichten. Unsere Familie hatte alles verloren. Wir wussten nicht, wie lange wir in der Bohrmühle wohnen bleiben durften.«
Helmut seufzte.
»Ich erinnere mich gut an die schmerzvolle Traurigkeit, die uns ergriffen hatte. Trotzdem schrieb ich auch in diesem Jahr meinen Weihnachtswunschzettel. - Willst du ihn hören?« Kai nickte entschlossen. Helmut zog einen zerknitterten Zettel aus der Hosentasche. Er setzte seine Brille auf und las:
»Ich wünsche mir Hitlers Auto, Soldaten,
eine Reichswehrwaffe mit Wachhäuschen
und ein Maschinengewehrmotorrad.«
»Wollteste immer nur Kriegsspielzeug?«
»So war die Zeit, Kai. Ist es heute besser? Ich kann mich gut erinnern, wie du mit deinem Action-Man durch die Gegend geballert hast.«
»Damit ham doch alle gespielt!«
»Ja, ja, alle! Denk mal drüber nach.
Nun musst du schlafen, Kai. Anne verlässt sich auf uns.«
»Erzählst du morgen weiter?«
»Versprochen.«
Allein im Zimmer wusste Helmut, dass er Kai nicht die ganze Wahrheit erzählen konnte. Er würde sie wohl niemandem erzählen können.
Von diesem Tag an gab er wieder schöne Anekdoten zum Besten und irgendwann fragte Kai nicht mehr.
Epilog
Helmut tastete sich einen Fuß vor den anderen setzend die Treppe hinuter. Die Holztreppe knarrte. Mit einer Hand krampfte er sich am Geländer fest, mit der anderen hielt er zwei Bücher, eingebunden in verblasstes, weinrotes Leinen. Auf der letzten Stufe atmete er tief durch. Er kam zu dem Schluss, zum letzten Mal den Weg zum Boden bewältigt zu haben. Am Schreibtisch angekommen, seinem Lieblingsplatz, sank er in den dick gepolsterten Stuhl, dessen schwarze Lederbezüge ihm nie gefallen hatten. Mit spitzen Fingern strich er über die vergilbten Seiten und spielte mit dem Gedanken, sie zu vernichten. Im nächsten Moment entschied er sich dagegen, schlug die erste Seite auf und begann zu lesen:
5. Mai 1942:
Liege mit meinen Kameraden auf trockener, rissiger Erde, wilden Gräsern und getrocknetem Schilf. Mittagsruhe. Die Sonne brennt auf unseren nackten, gebräunten Oberkörpern.
Als ich Kondensstreifen am Himmel entdecke, schreie ich: “Der Iwan kommt!” und springe auf.
Ein russischer Aufklärer überquert unsere Baustelle. Ich werfe mich zu Boden, bedecke den Kopf mit den Händen. In der Ferne Detonationen.
Angst, Stille, Glück gehabt!
Weiter rattern Bagger und Förderbänder, klappern Schaufeln und Spaten, bis die Sonne im Westen untergeht.
In der Dämmerung fliegen Krähen über uns hinweg.
Aus dem nahegelegenen Lager wehen die schwermütigen Melodien der Gefangenen zu uns herüber.
Ruhe kehrt in unserem Vier-Mann-Zelt ein.
Ich schreibe im Schein der Schuhfettfunzel einen Brief an meine Lieben daheim, begleitet vom Schnarchen der Kameraden, dem Rascheln der Mäuse im Schilfdach und den dumpfen Schritten des Postens.
Sehnsucht nach zu Hause erfüllt mich.
Schnell lösche ich das Licht.
»Heimweh quälte mich in dieser Nacht«, erinnerte sich Helmut. »Ich wühlte mich in das aufgeschichtete Heu meines Nachtlagers, vergrub das Gesicht in den Händen.« Er spürte das Naß seiner Tränen, eingebunden in die Angst, von den Kameraden entdeckt zu werden.
Er räusperte sich, strich das weißgraue Haar aus der Stirn und beugte sich erneut über seine Aufzeichnungen:
6. Mai 1942:
Flüchtlinge ziehen vorbei auf der Suche nach einem Platz für die Nacht. Gebeugte alte Männer, magere Frauen und Kinder mit großen ängstlichen Augen. Eingehüllt in Lumpen, die Füße mit Stofffetzen umwickelt, tragen sie schwer an ihrer wenigen Habe.
Plötzlich ertönen Schreie. Ein Rauchpilz verdunkelt die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Eine Russenhütte brennt. Wir legen die Spaten zur Seite und schauen zu, wie eine mächtige Flamme durch das Strohdach schlägt. Wir lachen und klatschen in die Hände. Mit Eimern voller Wasser, die an Holzstangen hängen, versuchen die Dorfbewohner das Feuer zu löschen. Vergebens.
“Mensch hilf dir selbst, so hilft dir Gott!”
Helmut schloss die Augen. Er streckte die Arme nach vorne, deckte mit den Händen die aufgeschlagenen Seiten zu. Ein Frösteln überlief seinen Körper.
So saß er eine Weile, bevor er weiter las:
4. Juli 1942
Mit meinen Kameraden erreiche ich den nahen Fluss. Nackt stürmen wir in das brusttiefe Wasser, scherzen, und reiben unsere durchschwitzten Körper ab.
Als am gegenüberliegenden Ufer eine Kuhherde durch Rufe ihrer Hirten angetrieben wird, die flachste Stelle des Flusses zu durchqueren, rennen wir zum Ufer und ziehen unsere Turnhosen über.
Ich beobachte, wie die Rinder mit ihren Hufen das Wasser aufwühlen und trüben.
Durchnäßte, lehmbeschmierte Russen glotzen uns an. Sie begreifen nicht, dass wir Germanskis halbnackt unter der Sonne leben können.
Helmut fühlte seinen durchtrainierten neunzehnjährigen Körper, als wäre es gestern gewesen.
2. August 1942
Es ist noch früh, als die Motoren der schweren Lkws angelassen werden. Unsere Dreißig-Mann-Kolonne setzt sich in Bewegung.
Tornister hämmern an die Planen des Verdecks, die Motoren dröhnen. Der Staub hängt dick an den Kleidern. Mir brennen die Augen. Bei jedem Schlagloch werde ich gegen die Seitenwand geworfen. Voller Galgenhumor stimme ich das Lied meiner Heimat an: Das Rennsteiglied!
Es war sehr still. Nur das Ticken der alten Wanduhr war zu hören. Es kam Helmut vor, als wenn sie mit ihrem tick-tack, tick-tack wie eine Bombe tickte.
5. September 1942
Acht Tage verbringen wir auf einem Nebengleis im Vorbahnhof einer großen Stadt. Wir liegen auf dem Waggondach in der gleißenden Sonne und spielen Karten.
Ein grauhaariger Mann geht geduckt an uns vorbei, kriecht unter die Waggons. Er sammelt verschimmeltes Brot aus dem Dreck und schlingt es mit Begierde in sich hinein. Angeekelt drehe ich ihm den Rücken zu.
Als ein Zug mit Gefangenen neben dem unsrigen hält, erblicke ich ausgemergelte Scheusale, die hinter Eisengittern um Zigarettenstummel streiten. Mindestens sechzig dieser Bestien hausen in einem Wagon, liegen in ihren Exkrementen und nagen an steinhartem Brot. Abgestoßen wende ich mich ab.
Helmut atmete schwer, verkrampfte die Hände ineinander, bis die Knöchel weiß hervortraten. Seine Schultern zuckten.
28.September 1942
Schon von fern nehme ich verwesenden Geruch in der flimmernden Luft wahr. Er ballt sich über einem Gefangenenlager.
Eng zusammengerottet liegen bis aufs Skelett abgemagerte Untermenschen auf festgetretenem Boden, dürftig bedeckt mit kotbeschmierten, zerrissenen Kleidern. Augen von Tieren blicken mir entgegen. Ich bin froh, dass uns Stacheldraht trennt. Von Fliegenschwärmen umgeben, entlausen sich einige gegenseitig, andere kochen in Blechbüchsen undefinierbares Kraut, vom Weg gepflückt. Wieder andere drehen stinkendes Fleisch an primitiven Astspießen, zerreiben zwischen Steinen Körner zu Mehl, kneten es mit Wasser, das Jauche gleicht, zu Brei. Mir wird übel. Schnell gehe ich in die entgegengesetzte Richtung.
Von weitem sehe ich dunkle Wolken über das Lager dahinziehen.
Helmut erhob sich schwerfällig aus seinem Stuhl. Er trat zum Fenster und bemerkte nicht die Tränen, die über seine fahl gewordenen Wangen liefen. Lange kühlte er seine heiße Stirn an der kalten Fensterscheibe.
Als die Nacht den Tag verdrängte, saß er abermals am Schreibtisch, und griff im matten Schein der Stehlampe zum zweiten Tagebuch. Nur die erste Seite war beschrieben.
24. Oktober 1942
Täglich sehe ich ein etwa achtjähriges Mädchen ausgehungert und barfuß an der Ecke eines Hauses unweit des Marktes einer Großstadt stehen. Es streckt den Vorübereilenden seine zarten Hände entgegen und bettelt um Brot.
Helmuts Mundwinkel zitterten. Er presste die Hände auf die Brust.
Ein Jahr später fand seine Enkelin Anne diese Aufzeichnungen auf dem Dachboden ihrer Eltern. Unter dem letzten Absatz stand in verwischter, krakeliger Schrift:
13.Oktober 1998
Ich schäme mich unendlich!