Die großen Schulferien sind verlängert worden. Klasse! Diese gute Botschaft hat sich herumgesprochen wie ein Lauffeuer. Da kommt Freude auf. Ich besuche das 3. Schuljahr in der Volksschule in Bochum-Weitmar. Heute, am 1. September 1939, weile ich schon drei lange Wochen in Ferien bei unserer Oma in Essen-Schonnebeck. Ich will aber nach Hause! Meine beiden Brüder sind bei den anderen Großeltern in Essen auf der Margarethenhöhe in Ferien.
Aber was ist heute, am 1. September 1939, eigentlich geschehen? Was ist los? Im Radio haben wir es gehört. Wir sind so aufgeregt. „Deutschland hat Polen den Krieg erklärt“, lautet die Nachricht. Warum? Was bedeutet Krieg?
„Wir wollen nur unseren Korridor wieder haben“, sagen die Leute auf der Straße. „In 14 Tagen ist alles vorbei. Das hat der Führer versprochen.“
„Was für ein Korridor?“ frage ich mich und stelle mir zu Hause unseren langen Flur vor. Die Oma wird’s mir erklären. Erst muss sie mir mal die Zöpfe richtig flechten und nicht wieder verkehrt rum.
Ab sofort soll es Lebensmittelkarten geben. Oma wohnt in einem großen Wohnhaus mit vier Etagen und vielen Holztreppen. Ich liebe unsere Oma heiß und innig.
Es wird Nachmittag. Erst jetzt essen wir Fisch an einem weiß gedeckten Tisch – das lässt sich unsere Oma nicht nehmen, wir Kinder lernen bei ihr gute Manieren. Ich habe gerade ein paar Bissen runtergeschluckt, da platzt Anneliese, die schon 13 Jahre alt ist und im selben Haus wohnt, zu uns herein und verkündet lauthals: „In Albrechts Laden gibt´s noch Butter ohne!“ Ja dann! Oma drückt mir ein paar Reichsmark in die Hand, und ich hechte die vielen Holztreppen herunter, stürme über den Hof auf die Ophhofstraße, renne rechts um die Ecke auf die Richthofenstraße, runter bis zum Lebensmittelladen Albrecht und erhasche noch ein Pfund Butter ohne Marken. Schon am nächsten Tag hält Oma kopfschüttelnd ihre rosa Lebensmittelkarte in der Hand, die in viele kleine Kästchen eingeteilt ist. „Der Franz, dein Vater“, sagt Oma auf einmal nachdenklich, „wird nicht eingezogen. Er war schon im Weltkrieg 1914/18 Soldat. Und hier“, sie kramt in einer Schmuckschatulle, „diesen Granatsplitter hat man aus seiner Kniescheibe operiert.“ Ich weiß, unser Vater hat ein Verwundetenabzeichen aus dem Weltkrieg. „Nein“, sinniert Oma vor sich hin, „er ist auch zu alt, um noch Soldat zu werden. Er ist vierzig. Und Männer über vierzig gehen nicht mehr in den Krieg.“ Das ist das richtige Trostpflaster für meine aufkommende Sorge. Unser Vater ist Omas einziges Kind.
Ich gehe nach draußen und spiele in der Ophofstraße mit Anneliese Arning. Mit vielen anderen Kindern laufen wir auf ‘Ophofs Wiese’, was eigentlich verboten ist. Aber jetzt wird uns sicher niemand verjagen. Die Sonne scheint, wir spielen, und deutsche Heerestruppen marschieren seit heute morgen in Polen ein. Ich habe mir mit Oma den Korridor auf der Landkarte angeschaut. Eigentlich liegt er ja auch in Deutschland. „Lieber Gott mach, dass der Krieg bald zu Ende ist“, bete ich still vor mich hin. An diesem Abend packt mich das mir bestens bekannte Gefühl von Heimweh, als ich mit Oma in dem Riesenbett liege. Sie stupst mich immer an und meint, ich solle nicht so zappeln. Ich will nach Hause! Und mir fällt nichts Glorreicheres ein: „Oma, es ist Krieg, ich muss nach Hause!“ Natürlich wird mein Ansinnen in die Tat umgesetzt. Zwischen Essen und Bochum liegen nur ein paar Kilometer. Mit der Straßenbahn Linie 7 und Umsteigen in die „2“ in Gelsenkirchen und nochmaligem Umsteigen in die „8“ am Bochumer Rathaus ist die Fahrt jedes Mal umständlich und langweilig. Aber irgendwann habe ich es geschafft. Mama holt mich an der Straßenbahnhaltestelle in Bochum-Weitmar ab. Sie lacht mich an mit ihren blitzenden Zähnen. Wir gehen die letzte Strecke zu Fuß nach Hause. Das Abendrot leuchtet und verspricht für den nächsten Tag schönes Wetter. Die Treppenstufen zu Hause erscheinen mir viel höher und breiter als sonst. Meine geliebten Puppen sitzen Arm in Arm auf meinem Bett und halten ein weißte Band in den zarten Händen, auf dem „Herzlich willkommen“ steht. Und wie ich mich freue! „Hach, es ist Krieg, und ich bin zu Hause!“, denke ich erleichtert. Hier fühle ich mich sicher und geborgen. Meine beiden großen Brüder sind daheim und zeigen mir fünf aufeinander gestapelte hellgraue Pappkartons. „Da sind Gasmasken drin, für alle Fälle“, sagen sie. Ich verstehe das alles nicht. Unser Vater ist nicht zu Hause. Er ist dienstverpflichtet worden, um Autos für den Krieg zu beschlagnahmen.
Aber - in 14 Tagen ist ja alles vorbei. . .
(Aus Albrechts Laden wurde später der ALDI-Konzern.)