So kam mein Abitur näher. Der Leiter unserer Schule war damals Oberstudiendirektor Dr. Gohlke, ein Nazi, aber auch wohl eher ein schwacher denn ein schlechter Charakter. Wenn alle Schüler sich zur vorgeschriebenen montäglichen Morgenfeier versammelten, pflegte er die deutschen Märchen im Sinne nationalsozialistischer Ideologie zu interpretieren, was nicht nur mir erheblich auf die Nerven ging.
Doch schien er mir persönlich nicht ohne Wohlwollen zu begegnen. Einige Monate vor der Abiturprüfung wirkte ich bei einem künstlerisch gestaltetem Elternabend mit. Es handelte sich um die melodramatische Fassung von Gottfried Bürgers Riesenballade ›Lenore‹, mit Liszts musikalischer Untermalung. Ich donnerte den Text, während unser Musiklehrer, Herr Paetsch, meine Darbietungen am Klavier begleitete. Lehrerschaft und Publikum waren von unserer Vorführung sichtlich angetan. Dr. Gohlke nahm mich anschließend bei Seite und machte mir folgende Eröffnung: Er kenne nun meine Fähigkeiten, wisse von meiner einseitigen Begabung für die Geisteswissenschaften und um meine Schwäche in den Naturwissenschaften. Ich sollte also zusehen, mich im Jahresfortgang hier so gut wie möglich zu behaupten. Er verspreche mir, dass ich in keinem naturwissenschaftlichen Fach mündlich geprüft würde.
Es sollte jedoch ganz anders kommen. In Physik, Chemie und Biologie hatte ich es mit gütiger Unterstützung von Herrn Bartsch auf ein knappes ›genügend‹ gebracht. In der schriftlichen Mathematikprüfung gelang es mir immerhin, eine Aufgabe zu lösen, was ein ›mangelhaft‹ bedeutete, mit dem ich gerechnet hatte.
Welcher Teufel jedoch ritt mich, in meinem Deutschaufsatz mit dem Thema: ›Der Dichter als Führer durch das Leben‹ Gohlkes Märchendeutungen fast zu veräppeln, und als Beispiel für Leute, die nicht nur Verse machen, sondern mit dreißig schon aus ihrem Leben berichten, ausgerechnet den Reichsjugendführer Baldur von Schirach aufs Korn zu nehmen und dessen Verse, vor allem aber seine bereits erschienene Autobiographie durch den Kakao zu ziehen. Wollte ich zu diesem Anlass meine unverändert oppositionelle Gesinnung bekennen? Am wahrscheinlichsten bleibt jugendliche Wichtigtuerei und Verkennung des Ernstes der Lage. Hannes und ich hatten außerdem die Frechheit, als einzige bei der mündlichen Prüfung in Zivil und nicht in HJ-Uniform aufzutreten.
Diese Prüfung begann nun tragikomisch. Hannes Ewald und ich hatten uns schon um halb neun vorm Zeichensaal verabredet, wo die Prüfung eröffnet werden sollte, um nur nicht zu spät zu kommen. Beide hatten wir jedoch übersehen, dass der offizielle Teil schon um acht Uhr begonnen hatte. Ich erschrak, als mir mein Irrtum klar wurde, klopfte an die Tür des Zeichensaales, hörte drinnen ein zackiges ›Achtung‹ und als ich eintrat, sah ich vor mir den Schulrat und Obergebietsführer Schramm und die Klasse in strammer Haltung mit zum deutschen Gruß erhobenem Arm mich begrüßen. Herr Schramm lief rot an und konnte nur noch ein ›Raus!‹ ächzen, während meine Klassenkameraden sich ein Grinsen nicht verkneifen konnten. Die zackige Begrüßung hatte dem angesagten Kultursenator Boek gegolten.
Als ich wieder draußen stand, kam Freund Hannes gemächlich die Treppe hochspaziert. Ich sagte zu ihm: »Wenn du etwas Interessantes erleben willst, brauchst du nur anzuklopfen und ‘reinzugehen.«
Dann freilich hörte jeder Spaß auf. Schramm nahm mich anschließend beiseite, behauptete, ich hätte diese Sache bewusst inszeniert, um ihn und die HJ lächerlich zu machen, zitierte einige Sätze aus meinem Aufsatz, die er sich gut gemerkt hatte und entließ mich mit den Worten: »Nun, wir sehen uns ja noch.« Und so war es dann auch. Außer in meinem Wahlfach Deutsch wurde ich entgegen Gohlkes Versprechungen in Biologie, Physik und Chemie, Unterrichtsfächern des Herrn Schramm, mündlich geprüft.
Unglückseligerweise habe ich ihn dann noch einmal provoziert. Als ich, auf die Frage, zu welchem Thema ich in Deutsch sprechen wollte, sagte: ›George‹, rief er empört und höhnisch: »Was soll das, über diesen Schauspieler zu reden?!« Er musste sich belehren lassen, dass es sich um den ihm wohl unbekannten Dichter Stefan George handelte. Herr Schramm war bei jeder Prüfung dabei. Das Lehrerkollegium, ob Nazi oder nicht Nazi, war mit einer mich heute noch dankbar stimmenden Geschlossenheit bemüht, mir zu helfen. Dennoch war es nicht schwer, mich reinzulegen. Nach einer misslungenen Prüfung in Chemie nahm der Lehrer mich beiseite und sagte mir: »Lernen sie vier Basen auswendig. Ich werde beantragen, Sie nochmals zu prüfen und Sie dann nichts anderes fragen.« Dazu kam es nicht mehr. Ich konnte mir leicht ausrechnen, dass ich durchgefallen war.
Aber wieder kam es anders. Bei der Abschlusskonferenz erhob sich mein Klassenlehrer Paul Bartsch und machte dem Schulrat im Namen aller Kollegen den Vorwurf, er habe mich nicht objektiv, sondern beeinflusst geprüft. Damit war ich doch durchgekommen. Für meinen Aufsatz, von Schramm als ›mangelhaft‹ bewertet, kämpfte Frontgeist Schröder so lange, bis man ihn zur Note ›gut‹ angehoben hatte. Vier Jahre später habe ich ihn, nun etwas gereifter, noch einmal lesen können; eine bessere Note als ›gut‹ hat er gewiss nicht verdient.
Noch eine Erinnerung erscheint mir wichtig, als Beweis dafür, wie junge Menschen auch damals gegen eine ihnen unsinnig erscheinende Bestimmung protestieren konnten, selbst wenn sie mit der dahinter stehenden Weltanschauung einverstanden waren. Bisher war es üblich gewesen, dass die Abiturienten nach bestandener Prüfung sich mit einer speziellen Mütze schmückten, die den Studentenmützen nachempfunden war. Das wurde für unseren Jahrgang kurzfristig verboten. Waren doch die Burschenschaften längst aufgelöst und die Studenten im NS-Studentenbund zwangsorganisiert worden. Wir wussten uns zu helfen und gleichzeitig zu protestieren. Jeder Abiturient und auch Klassenleiter Bartsch besorgte sich einen Homburg, volkstümlich auch Koks genannt und so zogen wir durch Zoppots Straßen und auf den Abiturientenball im Zoppoter Casino-Hotel. Dort trafen dann meine Eltern mit Dr. Gohlke zusammen, der sich mit seinen Verdiensten um mich bei der Abiturprüfung brüstete. Meine Eltern lächelten milde, sie wussten ja Bescheid. Vielleicht hat er sich immerhin neutral verhalten.
Fünf Jahre nach dem Kriege habe ich ihn wieder aufgespürt, er war an einem Gymnasium als Studienrat untergekommen. Mein Abiturzeugnis war untergegangen und ich bat ihn um eine eidesstattliche Erklärung in dieser Sache. Er schickte sie mir postwendend zu. Er hatte mich keineswegs vergessen, das war aus dem unterwürfigen Ton seines Begleitbriefes zu ersehen. Ich müsste doch wissen, dass er nie ein wirklicher Nazi gewesen sei, und so weiter. Ich habe mich für ihn geschämt und den Brief weggeworfen.
(aus den Memoiren von Günter Althoff)
Anmerkungen
Günter Althoff wurde 1920 als jüngster Sohn des Zentrumpolitikers und späteren Bau- bzw. Handelssenators von Danzig, Dr. Hugo Althoff (1928-1933), geboren.
Im Rahmen eines Buchprojektes, dass je eine Jugenderinnerung eines Juden, eines Protestanten und eines Katholiken zur Nazizeit beschreiben sollte, hat Günter Althoff seine Memoiren von der Zeit seiner Geburt bis zum Ende des zweiten Weltkrieges niedergeschrieben. Dieses Buchprojekt ist gescheitert. Nun hat sein Sohn Florian Althoff die Veröffentlichung der Memoiren im Internet nachgeholt.
Der Auszug beschreibt das Frühjahr 1939, als Günter Althoff Abitur machte. Die gesamten Memoiren können unter http://www.florian-althoff.de nachgelesen werden.