Das Glück und das Heil

Kann man sich eigentlich so ohne weiteres an seine Kindheit, an die Jugend erinnern? An all jenes, was im einzelnen damit zusammenhing und einherging? Wahrscheinlich doch nur zu einem Teil. Und wohl  hauptsächlich an die einschneidenden Begebenheiten, also an solche, die aus verschiedenen Gründen im Gedächtnis haften blieben.

Dabei sind Erinnerungen so schön, weil sie eine Sehnsucht zum Inhalt haben. Weil das “Damals” alles so leicht und unbeschwert war. Und weil wir als Kinder es so und nicht anders gelebt haben.

Wir wurden zu Recht die “Kriegsgeneration” genannt. Und es fing schon sehr früh damit an. Wer von uns erinnert sich nicht an 1935, wenn wir als I-Männchen in unserem Lesebuch, der Fibel, neben den harmlosen Geschichten von “Heini und Lene” auch ganz andere Seiten gelesen haben. Vom “Weltkrieg” und von den tapferen Helden in Flandern, von den Kämpfern bei Langemarck und vor Verdun. Von den Schützengräben lasen wir und von Bomben und Granaten. Als wäre es eine Märchenstunde für Siebenjährige.

Es wurde zum Selbstverständnis. Es wurde zu Opium. Ohne daß wir Kinder es merkten. Lediglich eine unbestimmte Angst war da, die man nie ganz unterdrücken und nie ganz ergründen konnte. Daran kann ich mich genau erinnern.

Und dann die Fliegerbombe. Die sehe ich noch heute ganz genau vor mir. (Es berührt mich an dieser Stelle etwas eigenartig, wenn ich von “einer Bombe” spreche.) Aber diese Fliegerbombe ist mir, weil ich Angst vor ihr hatte, immer im Gedächtnis geblieben. Sie stand im Sommer 1937 als 1-m-lange Holz-Attrappe auf einem etwa 3-m-hohen Sockel auf dem Bahnhofsplatz in meiner Heimatstadt Hildesheim. Knallrot angestrichen und mit einem weißen Leitwerk. Schräg nach unten geneigt als sei sie gerade vom Himmel gefallen. Und eine Erklärung stand unten am Sockel, die meine Mutter mir vorlas. Eine Darlegung, daß dies eine Fliegerbombe sei, mit der man den Feind bekämpfen kann. Die aber auch der Feind auf uns abwerfen könne. Und deshalb sei Luftschutz so wichtig. Darum sollte jeder Mitglied im “Reichsluftschutzbund” werden.

Es war ein böses Gefühl, das mich beschlich. Ich habe diese Bombe nie vergessen, trotz der späteren bitteren Bomben-Wirklichkeit.

Aber dazu hatte es noch ein paar Jahre Zeit. Zunächst war schon eine Begeisterung in uns jungen Menschen. Sie wurde in den ersten winzigen Teilen langsam entfacht.

Die Luftschutzübungen in unserer Grundschulzeit waren für uns eine willkommene Unterbrechung des Unterrichts. Der Hausmeister läutete dann “Sturm”, so als wolle er nie wieder mit diesem Lärm aufhören.

Wir hatten eine richtige Glocke im Treppenhausbereich des mittleren Schulflures. Es wurde noch nicht durch elektrisches Klingeln zur Pause gerufen. Nein, mit einer schönen richtigen Bronze-Glocke, die der Hausmeister , und nur er, persönlich läutete.   Und niemand hätte es gewagt, sich an dieser Glocke zu vergreifen und damit dem Pedell in den Arm zu fallen.

Also, neben den Pausen, zu denen geläutet wurde, kam hin und wieder dieses “Sturmläuten”. Diese Übungen, die uns in den Schulkeller riefen, waren Abwechslung, sonst nichts! Welcher Schüler begriff in diesem Alter den dahinter stehenden Ernst? Nein, darüber machten wir uns keine weiteren Gedanken.

Die Schilderungen eines unserer Lehrer von der in “Gold’ner Abendsonne in ein kleines Städtchen einmarschierenden SA-Kolonne” regte unsere Phantasie da schon wesentlich mehr an. Die Geschichten von den Hitler-Regimentern und vom kleinen Meldegänger des großen Krieges. Das war unsere Welt.

Und wer erinnert sich nicht mehr an diesen durch den “Tag der Wehrmacht” vermittelten Enthusiasmus, wenn wir bei der Kavallerie reiten durften und wenn es aus der Gulaschkanone Erbsensuppe gab. Wer von uns marschierte als Junge damals nicht mit, wenn die Soldaten durch die Stadt zogen,  mit Musik und manchmal sogar zu Pferde mit den großen Kesselpauken an beiden Seiten?

Wer konnte uns dazu etwas anderes sagen? Wer wollte oder durfte es? Kaum jemand. Oder nur wenige. Aber die waren nicht mehr da  -  zumindest aber “mundtot”. Einer, der es so hervorragend klar gesehen hat, der es vor allem so wunderbar zu formulieren wusste, war Erich Kästner.

Doch schon weit vor dieser Zeit, nämlich in unserem Geburtsjahr 1928. Einige Zeilen aus “Kennst du das Land, wo die Kanonen blüh’n?” lauten:

Die Kinder kommen dort mit kleinen Sporen
und mit gezog’nem Scheitel auf die Welt.
Dort wird man nicht als Zivilist geboren.
Dort wird befördert, wer die Schnauze hält.

Dort reift die Freiheit nicht.
Dort bleibt sie grün.
Was man auch baut – es werden stets Kasernen.
Kennst du das Land, wo die Kanonen blüh’n?

Du kennst es nicht? Du wirst es kennen lernen!

Umwelt ist heute ein Wort bestimmter Bedeutung. Unsere Welt damals musste anders gedeutet werden. Doch es war “Umwelt” im wahren Sinne. Voller Uniformen. Voller Fahnen, die uns  -  im Nachhinein betrachtet  -  besser aus dem Hals als aus den Fenstern hätten hängen sollen. Heute wissen wir es. Wir haben es bitter erfahren müssen.

Und dennoch, das da, woran ich denke  -   in den Anfängen eines sich immer härter abzeichnenden Lebens  -  das da war unsere Jugend, in der wir ebenso glücklich waren, wie jedes andere Kind unter anderen Verfassungen als der einer Diktatur.

Nein, unsere Glücksfähigkeit war niemals eingeschränkt!

Wir sollten es deshalb auch nicht wegwischen. Wir sollten uns erinnern. Und wir sollten ruhig in “unsere Jugend” hinein horchen. Wenngleich wir selbst  -  geläutert, nach dem Kriege  -  unsere Kinder anders  erzogen haben.

Im Gegensatz zu unseren Eltern hatten wir die Möglichkeiten hierzu.

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