Wenn man heute am Beginn des neuen Jahrhunderts als Amateur dem Hobby Fotografieren nachgeht, so unterscheidet sich dies gewaltig von der Fotografie der 30er-Jahre. Welten liegen dazwischen. Es sind Unterschiede jeglicher Art, nicht nur die rein technischen, ganz bestimmt auch die des Erlebnisses.
Da geht man heute mit einer Digitalkamera in die Natur, wählt seine Motive aus, und schon ist das Bild auf dem Chip. Es kann sofort auf dem Monitor angeschaut oder auch in Sekunden ausgedruckt werden.
Die Kreativität besteht nur noch aus der Fähigkeit des Fotografen, das Aufnahmeobjekt intuitiv richtig einzuschätzen. Zu fühlen also, wie sich das Motiv auf dem Foto offenbaren wird.
Mit dieser Gabe allein kam der Amateurfotograf in der Zeit des Übergangs von den Anfängen der Fotografie zum Hobby für Jedermann bei weitem nicht aus. Gewiss, er brauchte nicht die Befähigung, sich mit Mikrocomputern und deren Forderung an den Bediener zu identifizieren. Dafür verlangte diese Freizeitbeschäftigung aber ganz andere Fertigkeiten. Vor allem solche, die erst durch Erfahrung, also learning by doing zur Perfektion führten. In keinem Lehrbuch konnte der Amateur die Lichtverhältnisse, die richtigen Verschlusszeiten oder die Gegenlichtpositionierungen wirklich ablesen, so sehr sich die Autoren solcher Werke auch bemühen mochten.
Nein, diese Dinge brachte sich ein jeder gewöhnlich selbst bei oder er hatte einen Freund, der weiter war als er und der ihm sein erfahrenes Wissen offenbaren konnte.
Kurzum, bevor ein Foto entstehen konnte, war manches an manuellen Voreinstellungen des Apparats zu bewerkstelligen. Dann erst, und frühestens dann, konnte mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass das Bild im Kasten war. (Der Ausdruck im Kasten entstammt noch der Plattenfotografie, jener Zeit also, die noch keine Rollfilme bereithielt und man mit echten Kästen fotografierte.)
Mein Vater war einer dieser Pioniere. Schon in den frühen 20er-Jahren bastelte er sich seine Detektor-Radios zusammen. Er hatte eine nur dreistellige Rundfunkteilnehmer-Nummer in Deutschland. Wenig später gab es kaum einen Menschen mit größerer Begeisterung für die Schwarz-Weiß-Fotografie. Mit allem, was dazu gehörte. Also zum Beispiel das Entwickeln und Fertigstellen der Bilder, das mit großer Sorgfalt und ebensoviel Idealismus betrieben wurde. Wie oft durfte ich als neugieriger Junge in der Dunkelkammer die geheimnisvolle Entstehung von Bildern miterleben. Besonders spannend war das natürlich dann, wenn es sich um die Familie oder Bekanntes, Miterlebtes handelte.
Und wenn ich so an die Familie denke, erinnere ich mich an ein mehr oder weniger spannendes Ereignis, das ebenfalls weitgehend mit Fotografie zu tun hatte.
Vater ging so gut wie nie ohne seinen Fotoapparat auf eine Wanderung.
Es ging bei diesem Erlebnis, das ich schildern möchte, um das Stativ, das ich bei einer sonntäglichen Wanderung zu tragen hatte. Kein Stativ der heute bekannten schweren Art, sonst wäre mir diese Aufgabe auch wohl nicht zugemutet worden, sondern ein leichtes Dreibein aus dünnen, ausziehbaren Rohren. Es befand sich in einem Futteral aus blauem Samt und ich hatte es auf eine umgehängte leere Fototasche gelegt. Beim Querfeldein-Wandern war es mir dann irgendwo unbemerkt weggerutscht.
Wesentlich später, als mein Vater dann seine Fototasche wieder benötigte, wurde das Fehlen des Stativs festgestellt - und ich bekam von meinem alten Herrn eine mächtige Standpauke gehalten. An meine Spardose wurde erinnert und im ersten ärger hätte mein Vater wohl beinahe noch eventuelles Schokoladengeld als Wiedergutmachung mit einbegriffen.
Alles in Allem hatte Vater das Stativ abgeschrieben und ein Suchen danach für illusorisch gehalten, da wir sozusagen querfeldein durch Heide und Buschwerk gegangen waren und uns eine längere Zeit nicht auf Wegen befanden. Der Sonntagsausflug hatte ein wenig schönes Ende gefunden.
Mein Vater hatte jedoch einen Denkfehler begangen. Er hatte die Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit meiner Mutter unterschätzt.
Diese rüstete am Montagnachmittag nach der Schule und den Schulaufgaben zum Aufbruch. Sie zog mit mir und meinen zwei Brüdern zum Sonntagswald und versuchte, genau den Weg von gestern nachzugehen.
Wir suchten lange Zeit sehr sorgfältig aber vergeblich. Bis wir uns mitten in einer Heidefläche befanden, in der ein weithin sichtbarer alleinstehender großer Baum stand. Mein älterer Bruder machte uns auf einen Kuckuck aufmerksam, der auf diesem Baum saß und seine Rufe in den Frühling entsandte. Wenn wir uns näherten, war er still, bis wir uns wieder vom Baum entfernten.
Diese völlig natürliche Reaktion des Vogels wertete mein Bruder auf seine Weise. Er behauptete, dass der Vogel nicht »Kuckuck«, sondern »Stativ« rief. So als wolle er uns darauf hinweisen, nicht aus diesem Bereich zu verschwinden, sondern hier energischer zu suchen. Zugegeben, das war zwar eine fixe Idee und auch nicht wirklich ernst zu nehmen, und doch handelten wir plötzlich alle nach dieser Devise.
Genau dort, wo der Ruf des Vogels aufhörte (also an dem er mit unserem Standpunkt zufrieden war), fingen wir mit einem besonderen System an zu suchen.
Wir begannen nebeneinander und gleichzeitig gestaffelt von einem Punkt aus in immer etwas weiter werdenden Kreisen zu laufen. Eigentlich wurde durch dieses Prinzip jeder Punkt im Gelände zwei oder dreimal von unserer Familie genau untersucht. Der Kuckuck war während dieser Vorgehensweise absolut still. Mein Bruder wollte uns beweisen, dass hier höhere Kräfte am Werk seien. Er brach einfach einmal absichtlich aus unserer Formation seitlich aus. Dies hatte tatsächlich die sofortigen erneuten Rufe des Vogels zu Folge. Also sagten wir uns, müssen wir konsequent so weitersuchen.
Mein kleinerer Bruder war es, der plötzlich lauthals »Stativ« rief. Stolz hielt er es in die Höhe. Und nicht nur der Kleine hatte sich bemerkbar gemacht, auch der Kuckuck rief zur selben Zeit und von da an nur noch ununterbrochen.
Es war für uns alle ein eigenartiges Gefühl, es machte uns nachdenklich, trotz des zweifelsfrei völlig natürlichen Hintergrundes der Verhaltensweise des »Glücksvogels«.
Wir zogen freudestrahlend und zufrieden nach Haus. Meine Spardose war gerettet (natürlich war sie im Ernst niemals in Gefahr!)
Abends, als Vater vom Dienst nach Hause kam, stand mitten in der Wohnstube ein schlankes Dreibein mit drei stolzen, grinsenden Söhnen daneben - die dann ganz aufgeregt ihrem Vater von dem spannenden Erlebnis mit dem Kuckuck berichteten.
»Ihr glaubt auch alles«, waren seine kommentierenden Worte. Er konnte eben keiner »Spökenkiekerei« huldigen. Aber er strich mir über den Kopf und freute sich mit mir über das Stativ.
Und auch ein wenig über den Kuckuck.